Mindener Tageblatt ,
16.04.2004 :
Seziertische neben der Gaskammer / Historiker Ernst Klee über die Schrecken der Euthanasie im Dritten Reich / Vortrag in Minden
Von Serhat Ünaldi
Minden (mt). Mehr als 100 000 Menschen starben zur NS-Zeit in deutschen Psychiatrien. Als "lebensunwert" wurden die Männer, Frauen, Jungen und Mädchen bezeichnet, die vergast oder mit Medikamenten getötet wurden. Der Frankfurter Historiker Ernst Klee, geboren 1942, ist Fachmann auf dem Forschungsgebiet der "Euthanasie". Mit ihm sprach MT- Volontär Serhat Ünaldi
Weshalb beschäftigen Sie sich seit Jahrzehnten mit den NS- Verbrechen an Behinderten?
Ich habe sehr lange mit Behinderten gearbeitet. Es gab in Frankfurt einen VHS-Kurs, bei dem wir Behinderte motiviert haben. Mir wurde klar, dass man viel für sie und ihre Rechte tun kann. Das war mein glücklichster Lebensabschnitt. Irgendwann habe ich mir überlegt, dass man das Thema Euthanasie aufarbeiten muss, solange die Zeitzeugen noch leben. Das war 1980. Damals hätte ich nicht gedacht, dass mich das Thema bis heute beschäftigen würde.
Sie sagen, dass die deutsche Psychiatrie die Nazis gebraucht hat. Warum?
Der Wunsch, Behinderte und Kranke auszumerzen, ist schon Jahrzehnte vor den Nazis in der deutschen Psychiatrie aufgekommen. Die Anstalten waren überfüllt, und es gab keine Möglichkeiten zu heilen. Die Ärzte betrachteten ihre Patienten als minderwertig. Die Ermordung der Behinderten wurde aber erst im Dritten Reich möglich. Als die ersten Patienten dann zur Vergasung abtransportiert wurden, herrschte bei manchen Anstaltsärzten Begeisterung.
Das war für die Psychiatrie doch die Bankrotterklärung des eigenen Berufsstands . . .
Ja, die Ärzte haben sich selbst ein Armutszeugnis ausgestellt. Wenn man das Problem nicht behandeln konnte, dann wurde es eben beseitigt. Erst 1942/43 haben führende Psychiater erkannt, dass sie sich praktisch selbst überflüssig machten.
Wie haben die Täter später reagiert, wenn Sie sie mit Ihren Forschungsergebnissen konfrontiert haben?
Die haben mir gesagt: "Sie sind der beste Kenner der Euthanasie-Tötung, aber in meiner Person irren Sie sich." Es waren immer die Anderen.
Gab es Anfeindungen?
Sicher. Auch heute werde ich noch angegriffen, aber das, was ich in meinen Büchern beschrieben habe, hat sich im öffentlichen Bewusstsein durchgesetzt. Mein erstes Buch von 1983 ",Euthanasie’ im NS- Staat. Die ,Vernichtung lebensunwerten Lebens’" ist gerade erst neu aufgelegt worden. Es gibt wenige Bücher, die über so lange Zeit nachgefragt werden, trotz eines so entsetzlichen Inhalts. Das zeigt, wie groß der Nachholbedarf ist. Das Buch bringt die Leute zum Nachdenken.
Sie haben in ganz Deutschland geforscht. Gab es auch in Ostwestfalen Verbrechen gegen Behinderte?
Auch aus Bethel habe ich früher viele Anfeindungen erhalten. Das ist ein ,heiliger Ort des Protestantismus’, wo man sich nach dem Krieg eine eigene Widerstandslegende geschaffen hat, die nicht stimmt. Bevor dort die NS-Ärzte aufgetaucht sind, waren die Patienten vom Personal in Bethel schon beurteilt und eingeteilt worden. Das nenne ich nicht Widerstand, sondern Beihilfe.
Viele Täter sind nach dem Krieg zu Weltruhm gelangt. Wie konnte es dazu kommen?
Ein großer Teil der gestandenen Ärzte hat bei der Euthanasie mitgewirkt. Wer wollte dort denn wen belasten. Es war auch mühsam, sie zu verurteilen. Die letzten Ärzte haben erst 1988 ihre Strafe bekommen. Ihre Begründung war, dass sie als überzeugte Nazis nicht reflektieren konnten, was sie taten.
Ist Ihnen ein Detail aus der Recherche besonders in Erinnerung geblieben?
Schockierend war ein Brief von einem Mädchen an seine Eltern, das wusste, dass es vergast wird. Was ich besonders schlimm finde ist, dass gesagt wurde: Die Menschen werden sowieso vergast, dann können wir sie auch zu Forschungszwecken nutzen. Neben jeder Gaskammer gab es einen Seziertisch. Vor der Vergasung wurden die Menschen, denen die Gehirne rausgenommen werden sollten, markiert. Es wurden Kinder bestellt, gefilmt und mit Medikamenten oder Gas umgebracht. Daneben standen Leute wie die spätere "Koryphäe" Julius Hallervorden, der nach 1945 Abteilungsleiter am Max-Planck-Institut für Hirnforschung wurde, um die Kindergehirne anschließend zu sezieren.
Sind Sie zufrieden damit, wie Behinderte heute leben?
Wir können nicht zufrieden sein, aber zufriedener. Behinderte haben auch heute noch kaum Chancen in der Berufswelt, als Lebenspartner, sind rechtlich benachteiligt und es wird noch immer nicht behindertengerecht gebaut.
Was würden Sie einer Mutter sagen, die ihr behindertes Kind abtreiben will?
Die Entscheidung kann man niemandem abnehmen. Ich war einmal in einer genetischen Beratungsstelle, wo man Müttern geraten hat, ihre behinderten Kinder abzutreiben. Die Entscheidungsträger haben im Leben aber noch nie mit Behinderten zu tun gehabt. Ich kann nur sagen: Über die Qualität eines Lebens und den Charakter eines Menschen entscheidet nicht die Behinderung.
Klee hält am Montag, 19. April, den Eröffnungsvortrag zur Ausstellung "Lebensunwert - zerstörte Leben", die vom 18. April bis 9. Mai in der Martinikirche zu sehen ist. Ab 19.30 Uhr spricht Klee in der Kirche über "Euthanasie und die Rolle der Medizin im Dritten Reich".
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