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Mindener Tageblatt , 26.01.2002 :

"Politisch und innerkirchlich umstritten" / Hobbyhistoriker Kristan Kossack zum inner- und außerkirchlichen Engagement Adolf Stöckers / "Modell überdauerte 1945"

Hille-Eickhorst (mt). Adolf Stöcker (1835 bis 1909), nach dem das evangelische Gemeindehaus in Eickhorst benannt ist, habe Juden für das verbreitete soziale Elend, das Ende des 19. Jahrhunderts in Deuschland herrschte, verantwortlich gemacht. Kristan Kossack, Hobbyhistoriker aus Minden, sich mit dem Thema auseinandergesetzt.

Der Berliner Hof- und Domprediger Adolf Stöcker war, so Kristan Kossack, schon zu Lebzeiten eine politisch und innerkirchlich stark umstrittene Persönlichkeit. Sein aus christlicher Nächstenliebe hergeleitetes sozialreformerisches Engagement hatte ihn bewogen, auf der Kanzel zu predigen und zugleich in politischen Versammlungen als Volkstribun aufzutreten.

Dieser Umstand trug ihm besonders innerkirchlich viel Kritik ein, durch seine sozialen Bestrebungen war er im konservativen Lager umstritten. Den breitesten gesellschaftlichen Zuspruch fand Stöcker für seine antisemitischen Thesen zu Lebzeiten im Mittelstand und bei Teilen der Oberschicht, posthum in innerkirchlichen Kreisen und von seiten völkischer Organisationen.

Der Hauptgrund für diese Resonanz war Stöckers Weiterentwicklung des überlieferten christlichen Antijudaismus. Für ihn hatten die Juden nicht nur Christus gekreuzigt. Er beschäftigte sich mit dem zersetzenden modernen Judentum, das nach seiner Überzeugung zur christlichen Nächstenliebe unfähig sei.

1883 erklärte er wörtlich, dass "die Existenz von einer halben Million Juden, welche den Kapitalismus in seiner schreiendsten Gestalt auf die Spitze treiben, der ständig kreißende Mutterschoß ist für die Unzufriedenheit, für die gärenden Mächte, welche aus den unteren Volksklassen, aus den bedrängten Arbeiterkreisen, aus den um sein Dasein kämpfenden Handwerkerstande zum Licht empordrängen".

Die hier vorgenommene Gleichsetzung von Kapitalismus und Judentum war, sagt Kristan Kossack, falsch, Stöcker wußte sehr gut, dassnicht alle, sondern nur einzelne Juden Kapitalisten waren.

Indem er seine Anschuldigungen nach den jeweiligen Bedürfnissen der Besucher seiner Versammlungen wortreich variierte, gelang es ihm, die Unzufriedenheit verschiedenster sozialer Schichten auf einen vermeintlichen Hauptstörenfried zu bündeln.

Dafür und auf Grund seiner Agitation gegen internationalistische Sozialdemokraten fand Stöcker auch bei Teilen des konservativen Bürgertums Gehör.

Nach dem gleichen agitatorischen Strickmuster verfuhren nach dem Ersten Weltkrieg alle völkischen Gruppierungen in Deutschland, im Unterschied zu Stöcker allerdings mit biologistisch - rassistisch zugespitzt zur Schau gestellten Antisemitismus.

Innerkirchlich war Stöckers Modernisierung des Antisemitismus ebenfalls auf fruchtbaren Boden gefallen. Otto Dibelius, von 1949 bis 1961 Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche Deutschlands erklärte zum Beispiel 1928: "Ich habe mich trotz des bösen Klanges, den das Wort vielfach angenommen hat, immer als Antisemit gewußt. Man kann nicht verkennen, dass bei allen zersetzenden Erscheinungen der modernen Zivilisation das Judentum eine führende Rolle spielt. Die Pflege des Vokstums, in das uns Gott hineingestellt hat, die Stärkung des Heimatgefühls, eine neue Verwurzelung in die Scholle und eine bewußte Abkehr von der modernen Asphaltkultur, das sind die Ziele, für die sich jede evangelische Kirche einsetzen wird".

Professor Martin Greschat liefert laut Kristan Kossack in einem Aufsatz über den Berliner Hofprediger aller Deutschen folgende Erklärung, warum Stöcker noch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kirchlicherseits geehrt worden ist: "In gewisser Weise überdauerte Stöckers volkskirchliches Modell sogar die Katastrophe des Jahres 1945. Das ist alles andere als ein Zufall. Denn es waren eben weiterhin von Stöcker geprägte Männer, die die Geschicke der Kirche auch nach 1945 noch leiteten."

Alle Zitate nach Greschat, Protestantischer Antisemitismus in Wilhelminischer Zeit Das Beispiel des Hofpredigers Adolf Stöcker in: Brackelmann/Rosowski (Hg.), Antisemitismus, Göttingen 1989.


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