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Mindener Tageblatt , 03.05.2008 :

Nazi-Zeit wird für Familie zur Katastrophe

Kinder müssen Deutschland verlassen und sich verstecken / Eltern sterben im Lager und bei Bombenangriff

Minden. Zur Zeit ihres Badeurlaubs auf Norderney Anfang der 30er-Jahre ahnte die Familie des Mindener Stadtarztes Robert Nußbaum nichts von der auch für sie sich anbahnenden Katastrophe der Nazi-Herrschaft. Die Eltern kamen um. Die Kinder wurden verstreut und überlebten nur Dank der Hilfe engagierter Mitmenschen.

Von Hans-Werner Dirks und Kristan Kossack

Der jüdische Arzt Robert Nußbaum (geb. 30. Mai 1892) und seine Frau Dora (geb. Quirin, 10. April 1894) hatten drei Kinder: Heinrich (geb. 22. März 1924), Günter (geb. 28. Mai 1925) und Anneliese (geb. 9. Mai 1928). In den Mindener Schulen wurden sie im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten als "Mischlinge 1. Grades" zunehmend schikaniert.

So wurde Anneliese die Aufnahme in der Oberschule für Mädchen im März 1938 verwehrt, was mehrere Schreiben des Bildungsinstituts aus dieser Zeit bekunden. Günter hatte in Minden eine Lehre als Gärtner begonnen, aber die Perspektiven wurden immer schlechter. Er entkam mit seiner Schwester schließlich 1939 mit Hilfe der Quäker (siehe Faktenbox) nach England.

Günter verließ Deutschland als erster. Er lebte zunächst in der Nähe von Brighton, wurde Koch, heiratete und machte sich zielstrebig mit einem eigenen Hotel, dem Court Hotel, in Emborough selbstständig. Die Finanzierung und Führung des Hotels mit mehreren Angestellten stellte für ihn eine große gesundheitliche Belastung dar. Er verstarb bereits 1981 im Alter von 57 Jahren an einem Herzinfarkt.

Anneliese war gerade elf Jahre alt als sie Deutschland allein mit dem letzten Kindertransport verließ. Sie wurde von einer Quäker-Familie herzlich aufgenommen und lebte zunächst in Grimsby / Gainbrough. Dort konnte sie wieder die Schule besuchen, Abitur machen und studierte im Anschluss in Bradford Pharmazie. Lange Zeit lebte und arbeitete sie in London als angestellte Apothekerin. Danach zog es sie in die Nachbarschaft ihres Bruders Günter. Heute lebt sie in Midsomer Norton zwischen Bristol und Bath. Sie hat drei Söhne.

Sommerbad war für Juden verboten

Heinrich Nußbaum berichtete kürzlich im Interview über seine Erlebnisse in den 30er-Jahren: "Da ich der HJ-Streife Piontek am Kino Universum / Am Markt bekannt war, durfte ich ins Kino, weniger Glück hatte ich im Sommerbad. Dort stand ein Schild: "Für Juden verboten!" und eine HJ-Streife versperrte mir den Weg. Vor unserem Haus, Vaters Praxis, hinderte 1933 die SA, die Patienten am Betreten der Praxis."

Heinrich, der nach Erreichen der Quarta die Schule verlassen musste, machte danach eine Lehre auf der hiesigen Schiffswerft Büsching und Rosemeyer. Im September 1944 wurde er zur Zwangsarbeit in ein Arbeitslager in Zeitz / Troplitz (Sachsen) gesteckt. Als die Mutter am 6. November 1944 dem Tages-Bombenangriff der US-Armee auf Minden zum Opfer fiel (Dora Nußbaum liegt im Massengrab der Bombenopfer auf dem Nordfriedhof) durfte er zurück in die Weserstadt und war wieder auf der Werft Dienst verpflichtet. Ende März 1945 wurde er noch einmal vom Arbeitsamt zum auswärtigen Arbeitseinsatz beordert. Statt sich jedoch nach Weimar (nahe dem Konzentrationslager Buchenwald) schicken zu lassen, versteckte sich Heinrich Nußbaum bis zum Kriegsende in Vennebeck.

Minna Kelle übernimmt Vormundschaft

Heinrich war zu dem Zeitpunkt, als beide Eltern tot waren, noch nicht volljährig. Nachdem der im Lager ermordete Vater zunächst 1937 inhaftiert worden war, bot Minna Kelle, um deren Tochter sich Robert Nußbaum als Arzt sehr verdient gemacht hatte, der Familie ihre Hilfe an. Sie half wo es nötig war. Kelle war engagierte Sozialdemokratin wie Nußbaum.

Eben diese Frau übernahm nun, als Heinrich Vollwaise geworden war, die Vormundschaft für ihn. Und sie besorgte ihm das Versteck bei ihren Verwandten, die in Vennebeck eine kleine Landwirtschaft hatten. Es waren nur ein paar Wochen vor Kriegsende, aber es waren entscheidende Wochen.

Heinrich Nußbaum erinnert sich noch gut, wie er nach dem Krieg wieder zuvorkommend im Stadtbild gegrüßt wurde und sich etliche Leute um wohlwollende Zeugenaussagen für "Persilscheine" bemüht, bei ihm anbiederten.

Brieflicher Kontakt mit Geschwistern

Heinrich hatte mit seinen Geschwistern auch nach der Flucht 1939 brieflichen Kontakt. Bis zum Kriegseintritt der USA erreichte ihn Post über das US-Rote Kreuz. Nach dem Krieg half der Mindener Zahnarzt Dr. Klopp über einen in Minden stationierten englischen Offizier, mit den Geschwistern in Verbindung zu kommen. In den folgenden Jahrzehnten besuchten sich die Geschwister gegenseitig in England und Deutschland. Als die Stadt Minden es 1989 für angemessen erachtete, die in die Welt vertriebenen Juden einzuladen, war Günter bereits acht Jahre tot und Anneliese hatte kein Interesse den "offiziellen Kontakt" nach 50 Jahren wieder zu beleben.

Hans-Werner Dirks aus Lavelsloh ist Diplom-Sozialwissenschaftler. Er arbeitet seit 1987 zur deutsch-jüdischen Emigration, unter anderem für die jüdische Kultusgemeinde Minden. Kristan Kossack aus Minden beschäftigt sich mit regionaler Zeitgeschichte (19. und 20. Jahrhundert) und hat diverse Veröffentlichungen verfasst (www.zg-minden.de)

Fakten

Die Quäker gründeten sich vor 360 Jahren in England als eine Reformbewegung gegen die Staatskirche. Nicht das "Kirchengebäude” und dessen Erhalt sollte im Mittelpunkt stehen, sondern die Gemeinde und der Dienst am Nächsten. Einen Wortgottesdienst gibt es nicht, wohl aber eine meditative Andacht bei der religiöse Ergriffenheit den Körper in Beben versetzen kann, was den Quäkern ihren Namen gab. (engl.: to quake, "beben, zittern”).

Für die Quäker ist es eine Tradition, verfolgte Menschen in ein Land zu bringen, in dem sie gefahrlos leben können. Um 1850 halfen sie schwarzen Sklaven illegal von den Südstaaten in die Nordstaaten zu gelangen.

In Nazi-Deutschland versteckten sie Juden in Berlin. Außerhalb von Deutschland nahmen Quäker-Familien konfessionslose, politisch verfolgte Menschen und Juden auf, die aus Deutschland und Europa fliehen mussten. Sie sammelten Geld für Visa und Schiffspassagen innerhalb ihrer Gemeinden.

Bildunterschrift: Die Nußbaums beim Badeurlaub auf Norderney: Anneliese, Günter und Heinrich sowie die Eltern Dora und Robert Nußbaum (v. l.).


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03./04.05.2008

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