Lippische Landes-Zeitung ,
08.04.2004 :
Das letzte Geleit / Die letzten Stunden des Lemgoer Bürgermeisters Wilhelm Gräfer im April 1945
Lemgo. "So voll war die Nicolai-Kirche selten. Kein Platz war frei", erinnert sich Herbert Lüpke an den Tag im April, an dem der Lemgoer Bürgermeister Wilhelm Gräfer beigesetzt wurde. Erst Tage nach seiner Ermordung hatten die Lemgoer überhaupt erfahren, was Gräfer zugestoßen und wo sein Leichnam zu finden war. Daraufhin wurde der Tote nach Lemgo zurückgeholt und zehn Tage nach der Tat beigesetzt.
Von Thorsten Engelhardt
Den Zeitzeugenberichten zufolge gaben viele Lemgoer Gräfer das letzte Geleit, vielleicht aus Dankbarkeit, dass er versucht hatte, ihre Stadt vor der Zerstörung zu retten. Herbert Lüpke, der seinerzeit Gräfers Dolmetscher war und mit ihm nach den Übergabeverhandlungen vom deutschen Kampfkommandanten verhaftet wurde, weiß jedenfalls noch genau, dass die Kirche komplett mit Menschen gefüllt war.
Der Beisetzung selbst wohnten nur wenige Honoratioren und die Familie Gräfers bei. Es existiert ein Foto, das den Leichenzug zeigt, obwohl damals strengstes Fotografierverbot galt. Zu sehen ist der Leichenwagen, gefolgt von Männern mit schwarzen Zylindern und einem Kraftfahrzeug auf dem Lemgoer Marktplatz.
Über Gräfers Schicksal nach der missglückten Flucht vom Lkw am Rieper Berg gibt die örtliche Geschichtsschreibung relativ genau Auskunft. In Joseph Wieses Erinnerungen "Lemgo in schwerer Zeit" heißt es, Gräfer wurde zunächst nach Barntrup gebracht. Hauptmann Heckmann, der Lemgoer Kampfkommandant, der Gräfer verhaftet hatte, kam selbst im Verlauf des 4. April 1945 nach Barntrup, packte Gräfer in seinen Wagen und fuhr ihn nach Lügde. Dort wurde er nach Heckmanns Aussage in einem Schuppen festgehalten und abends gegen sechs Uhr in aller Eile vor ein "Kriegsgericht" gestellt, denn die Amerikaner rückten immer näher. Gräfer berief sich laut Wiese zwar auf sein Recht, mit Besatzungsmächten zu verhandeln, sein Richter wischte das aber vom Tisch. Dieses Recht habe er nicht gehabt, während noch deutsche Truppen in der Stadt gewesen seien. Die Anklage lautete Landesverrat, das Urteil "Erschießen und Erhängen". Während in Lügde Gräfer verurteilt wurde, waren die Alliierten schon in Barntrup angekommen. Sofort nach der Verhandlung verlegte der General Görbich seinen Gefechtsstand nach Hehlen an die Weser.
Wiese zitiert auch einen Augenzeugen von Gräfers Ermordung, den ehemaligen Stabsgefreiten Hubert Lenzen. Er gab demnach damals zu Protokoll, dass über Gräfers Schicksal auch ein Telefonat stattfand, das ein Offizier mit dem General führte, während der Lemgoer Kampfkommandant Heckmann daneben stand. In diesem Gespräch habe der General offenbar befohlen, Gräfer zu töten, der Offizier soll das mit den Worten kommentiert haben, "der Schweinehund wird aus dem Leben geschafft". Heckmann habe darauf geantwortet: "Das hat er nur verdient." Heckmann selbst erinnerte sich später an das Telefonat, ob die Worte aber gefallen seien, könne er nicht mehr sagen, denn er habe damals vier Nächte lang nicht geschlafen und sei mit den Nerven am Ende gewesen.
Am Morgen darauf sah Lenzen, wie Gräfer auf dem Marktplatz von Bodenwerder von Soldaten und SS-Männern ermordet wurde. Sie schlugen auf seinen Schädel ein, dann hörte der Zeuge einen Schuss, schließlich wurde der Körper an einen Baum gehängt. Dort soll der Tote noch zwei Tage gehangen haben, erst kurz vor dem Einrücken der Amerikaner sei die Leiche abgenommen worden, heißt es in Wieses Bericht.
Auch Heckmann sah den Mann, den er verhaftet und damit wohl dem Tode ausgeliefert hatte, noch einmal wieder. Im Vorbeifahren in Bodenwerder, auf der Suche nach seiner Truppe. Gräfer hing an dem Baum, Mantel und Brieftasche lagen davor.
Heckmann berief sich bei seinen Vernehmungen später darauf, er habe als Soldat den Befehlen gehorchen müssen, eine andere Wahl sei ihm nicht geblieben. Dennoch habe er immer versucht, Lemgo und seine Bevölkerung möglichst zu schonen. Er habe somit in einem "inneren Zwang" gestanden, den Befehlen zu folgen und gleichzeitig die Stadt zu retten. Auch Karl Meier kommt in seiner "Geschichte der Stadt Lemgo" zu dem Schluss, das nach oben hin der Eindruck der Verteidigung erweckt werden sollte, wohingegen in Wahrheit nicht viel dafür unternommen wurde, um die Stadt nicht unnötigen Gefahren auszusetzen.
Selbst Herbert Lüpke, der vermutlich einem ähnlichen Schicksal entgegen gegangen wäre wie Gräfer, wäre ihm nicht die Flucht gelungen, urteilt differenziert. "Der Mann war überzeugt von dem, was er tat, von seinem Eid, den er geschworen hatte. Das kann man ihm noch nicht einmal vorwerfen." Und doch war es genau diese Treue zu einem verbrecherischen Regime, das über Jahre hinweg Millionen und in den letzten Tagen des "Reichs" immer noch Zehntausende das Leben kostete.
Teil 3 folgt
Anmerkung von www.hiergeblieben.de: Teil 1: "Ein Tag im April / Wilhelm Gräfer und das Kriegsende in Lemgo 1945 - Zeitzeuge Herbert Lüpke erinnert sich" und Teil 3: "Ein brüchiges Denkmal / Die Kontroverse um Bürgermeister Gräfe" sowie Teil 4: "Ein Mann im Geflecht der Stadteleite / Das Interview mit Hanne und Klaus Pohlmann - Letzter Teil der Gräfer-Reihe" erschienen am 03., 17. und 23. April 2004 in der Lippischen Landes-Zeitung und sind auf dieser Hompage ebenfalls dokumentiert.
Lemgo@lz-online.de
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