Bielefelder Tageblatt (OH) / Neue Westfälische ,
21.03.2008 :
"Rädelsführer der Revolution" / Peter Gießelmann war Organisator der APO in Bielefeld
Von Arno Ley
Bielefeld. In Berlin und Frankfurt demonstrierten vor 40 Jahren die Studenten. "In Bielefeld gab es davon kaum welche", erinnert sich Peter Gießelmann (66) an das unruhige Jahr 1968. Proteste indes gab es auch hier, getragen vor allem von einer bereits in den Vorjahren gewachsenen Ostermarsch-Bewegung. Gießelmann war Bezirkssekretär der SPD-nahen "Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken". Er galt damals als der organisatorische Kopf der außerparlamentarischen Opposition (APO) in Bielefeld.
"Ich habe sofort widersprochen, als man mich zum APO-Führer erklären wollte", erinnert sich Gießelmann. "Die politischen Ideale wurden von vielen geteilt. Das war eine Bewegung mit vielfältigen Zielen. Ich war als Falken-Sekretär nur derjenige, der Demonstrationen organisiert und angemeldet hat", sagt er heute. Mehr als zwei Dutzend Strafanzeigen hat ihm in wenigen Wochen diese Tätigkeit eingebracht. Für Polizei, Justiz und auch die Medien war er der "Rädelsführer der Revolution".
Gießelmann hatte nach der Volksschule Zweirad-Mechaniker gelernt, beteiligte sich seit Beginn des Jahrzehntes an den Ostermärschen. An den ersten 68er-Protesten in Bielefeld hatte er allerdings nicht teilgenommen. "Da war ich zu einem Lehrgang in Celle", Vorbereitung für ein Studium an der Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP) in Hamburg, das er 1969 beginnen durfte.
Nach dem Abschluss als graduierte Sozialwirt studierte er Soziologie in Hamburg und Bielefeld, machte später auch die Meisterprüfung als Zweiradmechaniker und war erster Ausbildungsleiter beim Bielefelder Verein BAJ (Berufliche Ausbildung und Qualifizierung Jugendlicher und junger Erwachsener).
"Die APO in Bielefeld, das waren vor allem wir Falken, das waren junge Mitglieder aus den Industriegewerkschaften Druck und Papier sowie Metaller", sagt Gießelmann. Neben einigen Studenten, die Bielefelder Universität begann erst 1969 mit dem Lehrbetrieb, beteiligten sich anfangs auch nur wenige Oberschüler. Das änderte sich im Verlauf des Jahres.
Die Oberschüler sorgten letztlich für die erste heftige politische Auseinandersetzung zwischen der APO und den Rathaus-Politikern. In ihrer Schülerzeitung "Pinscher", Anspielung auf ein Zitat von Alt-Bundeskanzler Ludwig Erhard, kritisierten sie, dass die von Rudolf August Oetker gestiftete Kunsthalle den Namen seines Stiefvaters tragen sollte. Richard Kaselowsky war Mitglied im "Freundeskreis" des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, gewesen. Himmler ist einer der Hauptverantwortlichen für den staatlich organisierten Massenmord an Juden und anderen Minderheiten. Ein ursprünglich geplante Festakt zur Eröffnung der Kunsthalle wurde letztlich abgesagt.
Der "Pinscher" war in der "Linken Baracke" vorbereitet worden. So nannten die Jugendlichen das Versammlungshaus der Falken an der Melanchthonstraße, einem ehemaligen Pferdestall der kaiserlichen Armee. 1980 wurde die Holzkonstruktion abgebrochen, um Platz für eine Schul-Turnhalle zu bekommen. Wenn Gießelmann der Rädelsführer der Bielefelder APO war, dann war die "Linke Baracke" die Einsatzzentrale.
Vieles, worüber Gießelmann heute freimütig spricht, hätte Joseph Heinermann 1968 gerne erfahren. Der spätere CDU-Ratsherr († 2000) war damals im so genannten K14 tätig, das sich mit politischer Kriminalität beschäftigte. Mindestens eine Hausdurchsuchung in der Falken-Baracke ist überliefert. Das Ermittlungsergebnis vorzugsweise gegen wildes Plakatieren, Landfriedensbruch sowie die und Verunglimpfung von Bundesregierung und Bundestag war dürftig.
Viele Strafanzeigen, aber niemals verurteilt worden
Von 24 Strafverfahren "gegen Anhänger und Mitläufer" der Bielefelder APO wurden im Dezember gleich 21 auf einmal eingestellt. Oberstaatsanwalt Werner Kny († 1976) glaubte nicht, dass es zu "größeren Störungen des Rechtsfriedens" in Bielefeld gekommen sei. Gießelmann wurde nie verurteilt.
In Bielefeld hat es 1968 nahezu jede Formen des Protestes gegeben, wie sie in 68er-Chroniken aus Berlin auch berichtet werden. "Hier war alles nur viel harmloser", sagt Gießelmann mit einem leichten Lächeln. "Für einige Bürger brach gleich die Ordnung zusammen, wenn Demonstranten sich auf eine Kreuzung setzten." Was mögen die ängstlichen Bürger befürchtet haben, als am 24. Februar die Fahne der kommunistischen Untergrundarmee Südvietnams, des Vietcong, über der Sparrenburg geweht hat – gehisst von Zivildienstleistenden aus Bethel.
Gewalttätige Krawalle sind aus Bielefeld nicht überliefert. Einzig ein Arminiafan musste von der Polizei vor Fausthieben geschützt werden, als er mit seiner Fahne neben einem Demonstrationszug "hertrottete". Aribert und Inge Schmidt gründeten in der Linke Baracke den ersten Kinderladen. Peter Seideneck, aus Bielefeld stammender Student, gehörte in Frankfurt zu den Mitgründers des Club Voltaire, nach dessen Vorbild eine Gruppe auch in der Linken Baracke debattierte. Seideneck (66) leitete später das Abgeordnetenbüro des DGB-Vorsitzenden Heinz Oskar Vetter († 1990) im Europa-Parlament.
"Wir hatten gelernt, unser Leben selbst zu gestalten. Bildung ist Macht", sagt Gießelmanns spätere Ehefrau. Dem Protest folgte vielfach eine zielstrebige Fortbildung. Viele der Bielefelder 68er nutzen die Möglichkeiten des zweiten Bildungsweges. So brachten es der gelernte Schriftsetzer Jürgen Prott (65) und der gelernte Maschinenschlosser Karl Adolf Otto (73) bis zum Professorentitel. Andere wurden Lehrer, einige Schulleiter. Eberhard Weber ist heute Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Dortmund und Günter Garbrecht (58) Abgeordneter im nordrhein-westfälischen Landtag, um nur einige zu nennen.
Gießelmann und mehrere seiner Freunde wurden 1969 aus der SPD ausgeschlossen, weil sie die Kandidatur eines bekannten Betriebsrates auf der Liste der Aktion Demokratischer Fortschritt (ADF) mit ihrer Unterschrift unterstützt hatten. 1970 heiratete er Helga Bruelheide, die er als Sekretärin im SPD-Parteibüro kennengelernt hatte. Helga Gießelmann (58) ist inzwischen nicht nur Landtagsabgeordnete sondern zugleich Vorsitzende der Bielefelder SPD.
Die Ostermarschbewegung erlebte ihren Höhepunkt, nachdem sie in den 1970er-Jahren unterbrochen wurde, im Jahr 1983 als Protest gegen den so genannten NATO-Doppelbeschluss. In Bielefeld und Umgebung sollen bis zu 10.000 Menschen auf die Straßen gegangen sein. 1968 wurden von der Polizei 300, von den Organisatoren 800 Teilnehmer gezählt. Vor genau 50 Jahren gingen in Großbritannien die ersten Ostermarschierer auf die Straßen. 2008 gibt es in Bielefeld nicht einmal mehr eine Kundgebung, die den Titel trägt.
Außerparlamentarische Opposition
Die Ostermärsche, Demonstrationen jeweils zu den Osterfesten, richteten sich gegen die atomare Bewaffnung und das Wettrüsten der Militärblöcke. Hinzu kam der Protest gegen den Vietnam-Krieg und – seit Bildung der ersten Großen Koalition von CDU und SPD (1966 bis 1969) – auch der Widerstand gegen die Notstandsgesetze. Diese sollen die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen sichern, wurden aber als Vorbereitung für einen Krieg gedeutet.
In Bielefeld wurden die Ostermärsche in den ersten Jahren neben den Falken vor allem von Sozialdemokraten des linken Parteiflügels unterstützt, von Gewerkschaftsmitgliedern, Teilen der Evangelischen Kirche und von Kommunisten, deren Partei seit 1956 in der Bundesrepublik verboten war. 1967 soll es beim Ostermarsch in Bielefeld etwa 200 Teilnehmer gegeben haben.
Zunächst unabhängig davon formierte sich Mitte der 1960er-Jahre ein Protest an den Hochschulen. Als am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg am Rande einer Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin von einem Polizisten erschossen wird, kommt es zu Massenkundgebungen. Die erste Studenten-Demonstration in Bielefeld ist vom Buß- und Bettag, 22. November 1967, überliefert. Der Berliner Polizist, der den tödlichen Schuss abgegeben hatte, war freigesprochen worden. Studenten der Theologischen Hochschule Bethel und der Pädagogischen Hochschule verteilten Flugblätter. "Die Aktion verlief äußerst diszipliniert", schreibt der Chronist der Neuen Westfälischen.
In den kommenden Wochen des Jahres 1968 werden beide Gruppen gemeinsam in der Berichterstattung als "außerparlamentarische Opposition" (APO) bezeichnet, wobei diese scheinbare Einigkeit bereits mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei im August endete. Auch in Bielefeld entstanden daraufhin zahlreiche politische Grüppchen, die sich untereinander befehdeten.
Einige Ereignisse des Jahres 1968
30. Januar: Tet-Offensive der kommunistischen Untergrundarmee in Südvietnam.
17./18. Februar: Vietnamkongress an der Technischen Universität (TU) Berlin.
3. April: Brandanschlag auf ein Kaufhaus in Frankfurt durch Andreas Baader und Gudrun Ensslin.
4. April: Martin Luther King wird in Memphis ermordet.
11. April: Anschlag auf Rudi Dutschke, bekanntester Sprecher der APO in Berlin.
6. Mai: Straßenschlachten in Paris, später Generalstreik.
21. Mai: Grundstein für die Universität Bielefeld.
30. Mai: Notstandgesetze werden vom Bundestag mit Zweidrittelmehrheit beschlossen.
20. August: Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei.
27. September: Bielefelder Kunsthalle wird eröffnet.
5. November: Der Republikaner Richard Nixon gewinnt die US-Präsidentschaftswahl.
Bildunterschrift: Protest gegen den Vietnamkrieg: Auf der Treppe zum Theater am Alten Markt wehten die Fahnen des Vietkong und eine US-amerikanische Flagge wurde verbrannt. Die Demo am 24. Februar sorgte für Aufsehen, war aber erkennbar keine Großveranstaltung.
Bildunterschrift: Im Polizeigriff: Am 29. November 1968 hatte ein "Deutsches Kulturwerk europäischen Geistes" den Vortragssaal im Haus der Technik angemietet. Der Redner, ein Alt-Nazi, rief die Polizei gegen Demonstranten zur Hilfe. Gießelmann wurde abgeführt.
Bildunterschrift: Musikant und Sprecher: Beim Ostermarsch 1968 traten Peter Gießelmann (links), Marlies Heidemann (†) und Dieter Grimme (rechts, †) auf. Bei einer anderen Demonstration trat Gießelmann als Redner ans Mikrofon. Bei beiden Kundgebungen auf dem alten Markt diente die Treppe des Theaters als Bühne.
Bildunterschrift: Erinnerungen an eine streitbare Jugendzeit: In einer Zigarrenkiste bewahrt Peter Gießelmann seine alten Fotos auf.
Bildunterschrift: Die "Linke Baracke": Im Februar 1980 wurde des Haus der Falken an der Melanchthonstraße abgebrochen. Offiziell war es nach dem Bielefelder SPD-Reichstagsabgeordneten Carl Schreck († 1956) benannt.
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