Neue Westfälische ,
02.12.1992 :
Die Wissenschaft verlässt den Elfenbeinturm / Professor Wehler zu Fremdenhass und seinen Wurzeln / "Nationalismus ist die Reaktion auf Krisen"
Von Cornelia Schulze
Bielefeld. Die zunehmende Ausländerfeindlichkeit veranlasst jetzt auch Hochschullehrer, den Elfenbeintutrm der Wissenschaft zu verlassen: Professor Hans-Ulrich Wehler, international bekannter Historiker der Universität Bielefeld, hat jetzt als einer der ersten öffentlich Stellung bezogen. Zum Auftakt einer Vortragsreihe in Bielefeld beleuchtete er das Thema "Nationalismus und Fremdenhass". Seine - sozialpsychologische - Grundthese: Das Zusammengehörigkeitsgefühl in menschlichen Gemeinschaften ist eine Hülse, die immer wieder neu gefüllt wird.
Als "rückwärtsgewandter Prophet" betrachtet Wehler die Analyse der Vergangenheit als ein hilfreiches Instrument zur Bewältigung der Ratlosigkeit in Politik und Bevölkerung. Folgerichtig vermittelte er seinem Publikum die Hintergründe der "erfolgreichsten politischen Religion", des Nationalismus. Auch dessen Grundlage sei das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen gewesen. Diese "Hülse" sei Anfang des 19. Jahrhunderts mit Inhalt gefüllt worden: dem "Nationalgefühl".
Richtig konnte sich diese neue Befindlichkeit allerdings erst nach 1948 durchsetzen. Anfänglich von den Konservativen mißachtet, gewinnt der Nationalismus als Antwort auf eine ausgeprägte politische und Modernisierungskrise immer mehr an Boden. "Es wäre fatal", so Wehler, "anzunehmen, der Nationalismus sei gottgewollt oder gar natürlich". Er bot dem Staat eine neue Legitimation, den Staatsbürgern das Zusammengehörigkeitsgefühl, er verklärte die Vergangenheit, machte stolz durch die Idee nationaler Größen, bekam sogar ein stark religiöses Element: "Er vermittelte das Gefühl, auserwählt zu sein."
Die Abwehr nach außen, der leidenschaftliche Franzosenhass, die Feindbilder Russland und England sowie die Sündenböcke im Inneren, die politischen Katholiken und Sozialisten, stärken den "Dazugehörigen" den Rücken.
"Der Nationalismus ist die politische Reaktion auf Krisen. Und je stärker die Krisen sind, desto radikaler zeigen sich die Auswirkungen nationalistischen Denkens. Die neue Qualität der Gewalttaten spiegelt diesen Zusammenhang 1992 wider", meint Prof. Wehler.
Aus seiner Kenntnis und Analyse des Vergangenen sieht der Wissenschaftler - bekannt für pointierte und provozierende politische Stellungnahmen - mittelfristig eine wichtige Lösung darin, dass Politiker und Bevölkerung der Bundesrepublik begreifen und anerkennen müssten, dass Deutschland ein Einwanderungsland sei. Dementsprechend müssten nicht neue Gesetze, sondern konsequenterweise auch Quoten geschaffen werden.
Wehler: "Es geht nicht um 10.000 oder 20.000 Einwanderer, sondern um mehr. Aber als Folge einer inkonsequenten Politik - die Opposition hat ihre Chance auch nicht genutzt - wird das diffuse Wählerpotential aus Protestwählern und Denkzettelverpassern die Republikaner-Zahlen in die Höhe treiben. Es droht kein Absturz in eine Schönhuber-Diktatur, aber die Ratlosigkeit darf nicht wachsen."
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