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Lippische Landes-Zeitung ,
01.04.2004 :
Leben an der Todeszone / Kinder aus der Gegend um Tschernobyl beschreiben den Alltag in ihrer kontaminierten Heimat
Lage (be). Jelena (13) sieht richtig hübsch aus. Ihre blauen Augen blitzen und strahlen aus einem leicht gebräunten Gesicht. Zusammen mit ihren Freunden Roman (12) und Alexej (11) sowie 41 anderen Kindern der "Schule Nummer 13" aus dem weißrussischen Mosyr waren sie drei Wochen in Grömitz. Der vom Verein "Hilfe für Tschernobyl-Kinder Lage" finanzierte Aufenthalt hat ihnen und ihren Betreuern richtig gut getan. Jetzt sind sie in der Zuckerstadt und lassen ihre Ferien in Gastfamilien ausklingen. Schon morgen heißt es wieder Abschied nehmen von Freunden, hilfsbereiten Menschen und vor allem von einer intakten Umwelt.
Rund 1 500 Kilometer von hier, daheim in Mosyr, ist alles anders. Wohlstand ist ein Fremdwort, viele Menschen sind ohne Arbeit, und überall stehen Hinweisschilder: "Vorsicht! Betreten verboten! Radioaktivität!" Die Stadt unweit der Todeszone von Tschernobyl leidet heute, 18 Jahre nach der größten atomaren Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg, weiter unter deren Folgen. Strontium, Cäsium, Plutonium - und wie sie noch alle heißen mögen, die Unheil bringenden Zerfallsprodukte, die eine radioaktiven Wolke übers Land trug - sie alle haben Böden, Wasser und Luft auf Jahrzehnte verseucht.
Die Region um Mosyr ist wald- und seenreich. Ein idealer Abenteuerspielplatz für Kinder. Doch seit dem 26. April 1986, als im Kraftwerk des 80 Kilometer entfernten Tschernobyl ein Reaktor explodierte, lauert die Gefahr überall. "Mama sagt immer, esst keine Beeren. Die sind voller Gift", erklärt Alexej. Doch oft können er und seine Freunde der Versuchung nicht widerstehen. "Pilze in allen Variationen, ob gekocht oder gebraten, stehen bei uns ganz oben auf dem Speiseplan", übersetzt Anna Chomutowskaja die Worte der stellvertretenden Leiterin der "Schule Nummer 13", Irina Kuprijenko.
Ohne selbst angebautes Gemüse und Kartoffeln litten die Menschen Hunger. "Babutschka, Oma, hat uns immer mit allem, was der Garten ihrer kleinen Datscha hergab, versorgt", weiß Roman. "Doch jetzt ist Oma krank und lebt bei meiner Tante", ergänzt er. Was die Ursache für ihre Krankheit ist, spricht der Zwölfjährige nicht aus. Jeder kann es sich denken.
Krebs ist in der 125 000-Einwohner-Stadt Mosyr Todesursache Nummer eins. Viele Kinder leiden unter Blut- und Schilddrüsenkrebs. Wie viele es sind, weiß keiner genau. Statistiken der Regierung gibt es nicht oder werden nicht veröffentlicht. "Es sind auch schon einige der Kinder gestorben, die einmal hier zu Gast in Lage waren", sagt Dolmetscherin Anna Chomutowskaja, die auch beim 14. Besuch der Gäste aus Mosyr wieder dabei ist.
Der dreiwöchige Urlaub an der Ostsee, die anschließende Zeit in den Gastfamilien, stärkt ihr Immunsystem zwar, aber nur für kurze Zeit. "Der Aufenthalt bei uns gibt den Kindern jedoch nicht nur physische, sondern vor allem auch psychische Kraft", ergänzt Hans Adomeit, der zusammen mit seiner Frau Ingrid die Lehrerin Irina Kuprijenko bei sich aufgenommen hat. "Das Gefühl der Hoffnung und die Zuneigung, die wir ihnen in der Zeit hier vermitteln können, ist das Schönste, was sie mit nach Hause nehmen", unterstreicht Ingrid Adomeit.
Jelena will später Ärztin werden, Alexej Sportler oder Feuerwehrmann, so genau weiß er es noch nicht, und Roman möchte, wenn er groß ist, Flugzeuge fliegen. Daran glauben sie ganz fest, und ihre Augen leuchten erwartungsvoll.
Lage@lz-online.de
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