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Höxtersche Kreiszeitung / Neue Westfälische ,
22.03.2004 :
Eingeweiht waren nur wenige / Totalitäre Meinungslenkung und Propaganda im Dritten Reich: Was wussten die Deutschen von der Judenvernichtung?
Von Martina Schäfer
Höxter. Das Dritte Reich ist allgegenwärtig. Neue Biografien über Nazi-Führer erscheinen, Filme über Widerstandskämpfer werden gedreht, die Schrecken des Nationalsozialismus medial aufbereitet. Das Publikum reagiert auf diese Informationsflut sehr unterschiedlich. Die einen sagen: "Nicht schon wieder. Wir können es nicht mehr hören." Andere wiederum erkennen: "Es gibt noch Aufklärungsbedarf. Denn viele Fragen bleiben selbst nach mehr als 60 Jahren noch unbeantwortet."
Eine dieser Fragen ist, was die Deutschen tatsächlich über die Gräuel der Nazis gewusst haben und ob sie wussten, dass ihre jüdischen Mitbürger in den Vernichtungslager ermordet wurden. Diese selbst unter Historikern umstrittene Frage hat sich Dr. Wolfram Ender zum Vortragsthema gemacht. Der Lehrer für politische Bildung an der Zivildienstschule Ith bei Eschershausen gab im Haus der Volkshochschule Höxter einen kurzen Abriss über die Maßnahmen der Nationalsozialisten gegen die Juden und machte dabei klar, wie schwierig es noch heute ist, Wahrheiten zu erfahren. "Wer wissen wollte, konnte wissen", sagte der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer seiner berühmten Reden. Doch was genau erfuhr man im Dritten Reich, wenn man tatsächlich nachhakte?
Die Propagandamaschinerie von Joseph Goebbels ließ genau die Informationen herausgeben, die den Machthabern ins Konzept passten, andere wiederum wurden geheim gehalten oder nur wenigen zugänglich gemacht. In unseren Medienzeiten ein geradezu unvorstellbares Phänomen. "Arierparagraph" und Nürnberger Gesetze, sozusagen das offizielle Programm, war damals öffentlich bekannt, vieles andere dagegen wie die Vernichtungspläne ("Wannsee-Konferenz" und die Ermordung von Millionen Juden in den Konzentrationslagern) wurde vertuscht.
Anhand von historischen Fakten, Reden, Zitaten von Zeitgenossen und überlebenden Opfern legte Dr. Wolfram Ender dar, wie sehr die Judenvernichtung im Dritten Reich ein "Unthema" war, das im schlimmsten Fall für zu Neugierige mit dem Tod enden konnte. "Das soll natürlich keine Entschuldigung sein", verdeutlichte der Historiker, "denn klar ist auch, dass die meisten Deutschen den Verfolgungsmaßnahmen gegen die Juden ziemlich gleichgültig gegenüberstanden, weil es vor allem in Kriegszeiten andere Sorgen gab, die die Menschen beschäftigten."
Ender ging auch auf die unrühmliche Rolle der Kirchen ein und machte klar, dass die meisten Kirchenführer von den Gräueltaten gewusst hatten. Bis auf wenige Bischöfe wie von Galen, Preysing und Wurm hatten die wenigsten protestiert, aus Angst, noch mehr Unheil anzurichten. Schwierig auch das Verhältnis der Wehrmacht. "Hier waren sicherlich eher die Erschießungen von Juden als die Vernichtungslager bekannt". Obgleich die Historiker bei dieser Bevölkerungsgruppe differenzieren müssen - zwischen einfachen Soldaten und Führern, die auch Kontakt zum inneren Kreis der NS-Machthaber hatten. Dass Ernst von Weizsäcker, damals Staatssekretär im Auswärtigen Amt, angeblich nichts Konkretes gewusst hatte, bleibt in der Rückschau heute unglaubwürdig.
Die Rolle des Auslands war ebenfalls nicht energisch durchgreifend. Wie verschiedenes Kartenmaterial und Berichte zeigten, war das Ausland informiert, aber auch nicht bereit, mehr als zurückhaltenden Protest zu wagen. "Weil man auch nicht bereit war, die Juden in Massen aufzunehmen", fand Ender deutliche Worte und wagte am Schluss die provokante, aber mit Blick auf die Geschichte nachvollziehbare These: "Wenn Hitler nicht andere Länder angegriffen hätte, wäre er wahrscheinlich nicht so bekämpft worden."
Tatsache bleibt, dass die Mehrheit der Deutschen sich das Ausmaß des Grauens nicht vorstellen konnte, aber es vielleicht auch nicht wissen wollte. Verschiedene Gründe, z.B. Scham, mangelnde Zivilcourage, spielen hier eine Rolle. Pauschalurteile und Extrempositionen bringen die Vergangenheitsbewältigung jedenfalls nicht weiter.
lok-red.hoexter@neue-westfaelische.de
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