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Bielefelder Tageblatt (OH) / Neue Westfälische , 20.03.2004 :

Ein Stück Stoff, das spaltet / Diskussion ums Kopftuch: Ein Vortrag und vier Meinungen

Von Heidi Hagen-Pekdemir

Bielefeld. Das meist unscheinbare Stück Stoff, etwa ein Quadratmeter groß, sorgt immer wieder für kontroverse und emotionsgeladene Diskussionen. "Die Kopftuchdebatte spaltet nicht nur Muslime, sondern auch die deutsche Bevölkerung in zwei Lager", beschrieb Prof. Dr. Ursula Spuler-Stegemann die aktuelle Situation auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

Zum Vortrag der Islamforscherin am Institut für Religionswissenschaften der Universität Marburg über das Thema "Kruzifix und Kopftuch" waren auch zwei muslimische Kopftuchträgerinnen ins Seniorenzentrum in der Ravensberger Straße gekommen: Ileri Hamide und Gülsen Altin.

Das Bundesverfassungsgericht hat im vergangenen Jahre entschieden, dass eine Lehrerin im Schulunterricht ein Kopftuch tragen darf, solange es keine Gesetze dagegen gibt. Die Regelung bleibt den Bundesländern überlassen. Seitdem tobt ein Streit darüber, ob das Tuch als Zeichen der Unterdrückung anzusehen sei.

Die dreifache Mutter Ileri Hamide (30) bedeckt ihren Kopf seit Kindertagen. "Für mich ist der Schleier kein Symbol für Unterdrückung", sagt sie. Die dreifache Mutter hat Medizin studiert und lebt erst seit kurzem in Bielefeld. Sie bezeichnet sich selbst als "gesellschaftlich aktiv", als Mensch der den Dialog auch mit anderen Religionen sucht und pflegt. Die gläubige Muslima liest im Koran und in der Bibel.

Ihre neunjährige Tochter hat in den ersten zwei Schulklassen den evangelischen Religionsunterricht besucht. Ob die jemals ein Kopftuch tragen wird? "Das soll sie eines Tages selbst entscheiden", sagt Ileri Hamide, die selbst etwa 100 Tücher besitzt und sie jeweils passend zur Kleidung aussucht.
Zu Hause allerdings, im Kreis ihrer Familie, bewegt sie sich ohne Kopftuch. "Meine Haare sind gefärbt und ich schminke mich." Unverhüllt auf die Straße zu gehen, käme ihr nie in den Sinn. "Mit dem Tuch fühle ich mich frei. Wenn ich es trage, kann mir niemand etwas Schlechtes sagen."

Ihre Freundin Gülsen Altin (35) entschied sich vor zehn Jahren für den Schleier. Die praktizierende Muslima hatte den Wunsch dazu schon lange vorher in sich gespürt. "Es war, als ob das Tuch, das ich schon immer um meinem Herzen getragen habe, nun um meinem Kopf war", beschreibt sie ihre äußere Veränderung.

In der Türkei ist der Schleier für Lehrerinnen, Dozentinnen und Parlamentarierinnen verboten. Darauf wies Ursula SpulerStegemann in ihrem Vortrag hin. "In Deutschland befürwortet lediglich eine Minderheit unserer türkischen Minderheit das Kopftuch."

Die Mehrheit bewegt sich unverhüllt inder Öffentlichkeit, wie etwa Mutlu Yildiz (29). Als Kind hat die Bielefelder Architektin zwar ein Kopftuch getragen – in der Moschee oder auf dem Friedhof.

Doch dieses Stück Stoff hat für sie heute keine Bedeutung mehr. "Dank meiner Erziehung bin ich sehr selbstbewusst. Ich habe versucht, als Türkin in der Gesellschaft etwas zu schaffen, auch in der deutschen." In ihrem Beruf, davon ist Mutlu Yildiz überzeugt, hätte sie mit Kopftuch kaum Chancen. "Man würde mein Tuch sehen und nicht meine Leistung."

Ihre persönliche Entscheidung beeinflusst allerdings nicht ihr Urteil über Kopftuchträgerinnen. "Ich habe großen Respekt vor Frauen, die bewusst den Schleier wählen und auch wissen, warum sie das tun. Die habe ich meist als sehr tolerante Menschen kennen gelernt."

Ähnlich formuliert es auch Sevim Keles-Acar. Die 25-Jährige ist Alevitin und gehört damit zu der Gemeinschaft der Muslims, die sich zu Humanität und Demokratie bekennen. Für Aleviten ist Kopftuchtragen kein Thema. "Allerdings finde ich das bei anderen Frauen in Ordnung, wenn sie das aus eigener Überzeugung tun und nicht dazu gezwungen werden." Auch sollten Kopftuchträgerinnen sich nicht völlig aus der Gesellschaft ausschließen.

Einmal in ihrem Leben hat die Pädagogikstudentin selbst ein Kopftuch getragen.Das war zum Auftritt von Necmettin Erbakan, dem früheren türkischen Ministerpräsidenten und Islam-Fanatiker, Jahre zuvor in der Stadthalle. Sevim und ihre Freundinnen machten sich einen Jux und besuchten die Veranstaltung in Jeans, knappen T-Shirts und mit verhülltem Kopf. "Wir wollten erfahren, wie das ist."

Toleranz und Respekt, so Mutlu Yildiz und Sevim Keles-Acar übereinstimmend, sind wichtig in der Diskussion der Kopftuchfrage. Auch Islamforscherin Spuler-Stegemann sieht darin die Voraussetzung für den Dialog zwischen den Religionen, für "einen offenen Umgang mit dem Unterschied".

Muslime in Bielefeld

In Bielefeld leben 25.000 bis 30.000 Menschen muslimischen Glaubens. Darunter gehören die Türken zur größten Gruppe mit 15.094 Personen. Weitere 4.511 besitzen die deutsche und die türkische Staatsangehörigkeit.

20./21.03.2004
lok-red.bielefeld@neue-westfaelische.de

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