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Lippische Landes-Zeitung , 09.03.2004 :

Begegnungen in einer anderen Zeit / Nachfahre der jüdischen Familie Sondermann besucht Horn

Horn-Bad Meinberg. Wenn Kurt Sondermann spricht, sprechen seine Hände mit ihm. Und wache Augen, die nicht verraten, dass der Mann schon 90 Jahre alt ist. Ab und zu beinhaltet einer seiner Sätze ein portugiesisches Wort, aber genau so oft kann man heraushören, dass Sondermann lange Zeit in Süddeutschland gelebt hat. Das war, bevor er in den 30er Jahren nach Brasilien ausgewandert ist, um sein Leben zu retten. Kurt Sondermann ist Jude. Er verbringt auf Einladung der evangelisch-reformierten Kirchengemeinde eine Woche in Horn. "Sie können sich gar nicht vorstellen, was dieser Besuch für mich bedeutet", sagt Sondermann.

Kurt Sondermann entstammt einer weit verzweigten Sippe: Sein Großvater war der Schlachter Moses Aaron Sondermann, der in der Heerstraße lebte. Dort verbrachte er mit seinen Brüdern oft die Ferien - denn ein Hornscher ist Kurt Sondermann nicht: Seine Eltern lebten in Süddeutschland. Er selbst wollte studieren, landete aber wegen des Studienverbots, das die Nazis für Juden erlassen hatten, in einem Schuhgeschäft in Saarbrücken. Nach der Saarabstimmung im Januar 1935 verließ er Deutschland, ebenso wie seine ganze Familie, und ging nach Brasilien, um der Verfolgung zu entgehen. "Wenns mal wieder besser wird, kommt man zurück", habe er damals gedacht - aber "Brasilien ist kein schlechtes Land zum Leben". Kurt Sondermann arbeitete zunächst für eine US-amerikanische Firma, gründete seine eigene Familie,wechselte schließlich in die Automobil-Zulieferbranche und war nach dem Krieg mehrfach wieder in Deutschland. Ohne viel davon zu sehen: Er besuchte die Frankfurter Automobilmesse als Aussteller - "Brasilien, Frankfurt, Brasilien, mehr habe ich nicht gemacht." Einen bleibenden Eindruck vom Nachkriegs- und Nach-Nazi-Deutschland bekam Sondermann, als er von der Messe aus mit Herzbeschwerden ins Krankenhaus kam: Vier Wochen sei er bestens versorgt worden, der Chefarzt habe ihm später eigenhändig nach Sao Paulo geschrieben, ob er gut angekommen sei.

So viel zu Kurt Sondermann und Deutschland bisher. Mit dem Besuch in Horn haben sich für den 90-Jährigen Begegnungen ergeben, mit denen er nie gerechnet hätte.

"Jeder Tag ist eine neue Überraschung"
Kurt Sondermann

"Ich kann das alles noch gar nicht fassen, es ist, als ob ich auf einer Wolke wäre." Allein schon die Einladung aus Horn, das habe ihm zuhause niemand glauben wollen - den Flug für Sondermann und seinen Freund Dr. Marcello Carvalho finanzierte die Kirchengemeinde zum Teil aus Spenden. Dann die Aufnahme in der Stadt seines Großvaters, der Onkel und Tanten, die nicht alle das Glück hatten, den Nazis zu entkommen: "Jeder Tag ist eine neue Überraschung", sagt Sondermann - und die Eindrücke sprudeln aus ihm heraus. Da ist die Klasse des Gymnasiums, die in einem Projekt den Spuren der jüdischen Einwohner Horns im Nationalsozialismus gefolgt ist: "Ich begreife es noch gar nicht, dass es junge Leute gibt, die sich für Schicksale interessieren, die so lange zurück liegen." Da ist das Treffen im Gemeindehaus mit jenen, die Sondermanns Reise mitfinanziert haben: "Alles Leute, die ich nicht kenne. Und sie geben sich die Ehre, mit mir zu reden." Da ist der Empfang beim Bürgermeister, der sich eine Stunde Zeit nimmt, da ist die Einladung zum typisch lippischen Mittagessen samt Pickert, der Ausflug zu den Externsteinen, überhaupt die Mühe, den beiden Gästen aus Brasilien ein Programm zu bieten - "wir hatten mehr Termine als ein Politiker", scherzt Kurt Sondermann. Das alte Horn seiner Jugendzeit hat er nicht mehr entdeckt: "Das ist eine ganz neue Stadt. Die Menschen hier können stolz darauf sein." Und auch ein Stück Heimat hat Sondermann hier entdeckt: "Es gilt die Regel, dass es nachmittags eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen gibt. Das war schon für meine Mutter das Wichtigste. Wichtiger als das Mittagessen."

All das werde ihm zuhause niemand glauben, ist Kurt Sondermann sicher. Deshalb habe er "Dr. Marcello" mitgebracht, "er ist mein Zeuge für alles, was wir hier erleben". Für Carvalho ist es nicht nur eine Reise in ein fremdes Land, das er "ordentlich und sauber" findet, dessen Menschen auf ihn sympathisch und höflich wirken - er hat hier zum ersten Mal in seinem Leben Schnee gesehen.

Verwandte und Freunde Sondermanns sind Opfer des Holocaust geworden. Seine Antwort auf die Frage nach Hass oder Groll ist indirekt. Er erzählt von seinem Großvater, der im Leben nie weiter als bis nach Bielefeld gekommen und mit 87 Jahren nach Kolumbien geflohen ist. Um dann wieder den Bogen zur Gegenwart zu schlagen, zur Freude, die empfindet über den Empfang und die Aufmerksamkeit in Horn - seine Hände, seine Augen sprechen mit. Das ist seine Antwort.


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