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Paderborner Kreiszeitung / Neue Westfälische , 08.03.2004 :

"Für das Neue sollen wir leben" / Rotarier luden zu Podiumsdiskussion über Vertreibung in die Kaiserpfalz

Von Hans-Hermann Igges

Paderborn. Vetreibungen europäischer Völker gehören zum 20. Jahrhundert wie erster und zweiter Weltkrieg. Und sie wirken fort: Nicht nur auf dem Balkan, wo Volksgruppen wie Serben und Kroaten oder Bosnier sich auch heute noch in zuweilen unverhohlenem Hass gegenüber stehen. Auch das Verhältnis von Polen und Deutschen steht im Schatten dessen, was sie im letzten Jahrhundert erlebt haben.

Und sie haben die trotz allem doch auch gemeinsame Geschichte durchaus unterschiedlich erlebt. "Es gibt zwei Erinnerungskulturen", sagt der in Paderborn promovierte polnische Theologe Dr. Grzegorz Chojnacki, Studentenpfarrer an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. Seine eigenen Eltern wurden nach dem Krieg aus dem damaligen Ostpolen, das sich die Sowjetunion einverleibte, in den vormals deutschen Westen umgesiedelt.

"Polen sprechen lieber von einem Vertreibungskomplex", erklärt denn auch der polnische Historiker Dr. Krzystof Ruchniewiecz, der wie Chojnacki 1967 geboren wurde und Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien an der Universität von Wroclaw (Breslau) ist. "Und bei vertriebenen Deutschen spielte das Thema des ,Dritten Reiches‘ keine Rolle," macht Chojnacke wiederum einen der Unterschiede deutlich.

Die beiden Mitt-Dreißiger begegneten am Freitagabend in der Kaiserpfalz auf Einladung des Rotary-International-District 1900 anlässlich einer Podiumsdiskussion zwei "Vertreibungs-Spezialisten" ihrer Väter-Generation: Dem Juristen und Bochumer Verfassungshistoriker Prof. Dr. Rolf Grawert (67) und Hans-Koschnik (74), langjähriger Bremer Bürgermeister, EU-Administrator in Bosnien von 1994 bis 1996 und seit 1998 Bosnien-Beauftrager der deutschen Bundesregierung.

"Der Nationalstaatsgedanke bedeutet keine Perspektive"

Das Thema Vertreibung wurde indes auf dem Podium - kundig moderiert und nachgefragt durch den Alters mäßig im Mittelfeld liegenden Journalisten Janusz Tycner, der unter anderem für die Wochenzeitung Die Zeit als Korrespondent in Polen arbeitet - nicht kontrovers diskutiert.

Man war sich weitgehend einig: Es taugt nicht für tagespolitische Aufgeregtheiten etwa um ein "Denkmal" oder ein "Zentrum" für Vertreibung in Berlin oder/und Breslau (Historiker Grawert) oder gar für neue Entschädigungsdebatten (Koschnick).

Auch Polen sehen durchaus ihr Fehlverhalten in der Umsetzung des von den Großmächten 1945 in Potsdam vereinbarten Umsiedlungs- bzw. Vertreibungsstatuts ein (Historiker Chajnacki), registrieren aber erstaunt in Deutschland eine neue Welle der Diskussion zum Thema. Und überhaupt galten Umsiedlung und Vetreibung als Ausgeburt des allgemein akzeptierten nationalen Prinzips lange geradezu als "friedensstiftende Maßnahme" (Koschnick).

Das Beispiel der Balkan-Kriege der neunziger Jahre habe aber deutlichst offenbart, so der Gast aus Bremen: "Der Nationalstaatsgedanke bedeutet keine Perspektive. Heute geht es weniger darum, frühere Vertreibungen zu korrigieren als zu verhindern, dass so etwas wieder passiert."

Wohl sei es aber durchaus richtig, individuelles Leid zu "ehren", so Koschnick, indem es eben nicht vergessen werde.

Dass man durchaus auf beiden Seiten schon des öfteren den Ratschlag gehört habe, ab jetzt nun aber "nicht mehr in der Geschichte zu wühlen", betonte Moderator Janusz Tycner, sich dessen bewusst, es aus nahe liegenden Gründen dann doch gerade wieder "für zwei Stunden" zu tun.

Einen eleganten Griff in den Zitatenschatz tat in diesem Zusammenhang der Studentenpfarrer, der im übrigen auf die heilvolle Erfahrung internationaler Studenten-WGs zum gegenseitigen Abbau von Vorurteilen setzt. Er beschwor den deutschen Groß-Schriftsteller Theodor Fontane, indem er ihn zitierte: "Das Alte sollen wir lieben, so es das Wert ist. Aber für das Neue sollen wir leben."


lok-red.paderborn@neue-westfaelische

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