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Lippische Landes-Zeitung , 13.03.1993 :

NS-Dokumente in Lippe entdeckt: Hunderte Denunziantenbriefe archiviert / Widerstandslegenden korrigiert

Von Manuela Morath-Holdt

Detmold. Auf "Reichsebene" ist das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte weitgehend erforscht. Erhebliche Defizite bestehen dagegen auf lokaler Ebene. Der Grund: Akten und Unterlagen der NSDAP-Kreisleitungen sowie nahezu der gesamte Schriftverkehr der Ortsgruppen konnten noch kurz vor dem Zusammenbruch vernichtet werden.

Die NS-Machthaber in Lippe gehörten 1945 zu den wenigen im untergehenden Reich, die das belastende Material nicht mehr rechtzeitig zur Seite schaffen konnten. Historiker können deshalb heute im Staatsarchiv Detmold aus dem Vollen schöpfen. Andreas Ruppert hat den einmaligen "Schatz" von 1300 Akten bearbeitet. Der Historiker legte zwei insgesamt über 700 Seiten starke Findbücher mit dem Titel "NSDAP und NS-Organisation in Lippe" von 1931 bis März '45 vor. Sie erleichtern das Auffinden der Dokumente. Für Heimatforscher bietet sich die Möglichkeit, einige "Legenden" selbsternannter Widerstandskämpfer zu korrigieren.

Der Leiter des Staatsarchivs, Dr. Klaus Scholz, und die an der Aufarbeitung beteiligten Mitarbeiter gehen davon aus, dass die einmaligen Überlieferungen nach Abschluss der Restaurierungsmaßnahmen bald Scharen von Wissenschaftlern anlocken werden.

Die meisten wussten mehr

Wie die Aktenberge von Detmold nach Schwalenberg und später dann ins Staatsarchiv gelangt sind, können die Historiker nicht mehr mit Sicherheit sagen. Nach der Sichtung des Materials steht für Ruppert jedoch fest: "Die meisten Menschen wussten landauf, landab weit mehr, als sie nach dem Zusammenbruch zugeben wollten." Allerdings legten Scholz als auch Ruppert ausdrücklich Wert auf die Feststellung: "Die Lipper waren nicht mehr, aber auch nicht weniger anfällig für das menschenverachtende Gedankengut der Nazis als die Bevölkerung in anderen Landstrichen auch." Dass die NSDAP am 15. Januar 1933 bei den Landtagswahlen in Lippe - zwei Wochen vor Hitlers Machtergreifung - so gut abschnitt, führen die Wissenschaftler mehr auf einen bis dahin nie gekannten Propaganda-Einsatz zurück.

Ruppert hat hunderte von Briefen gelesen. Darin wurden insbesondere Leute angeschwärzt, die "wieder beim Juden gekauft, über Politik herzogen oder über lokale Parteigrößen gemeckert hatten". Sowohl bei den Denunzianten als auch bei den "Machthabern" vor Ort handelte es sich in der Regel um "eher schlichte Gemüter". Dies spiegelt sich auch in der Wortwahl und in der Orthographie wieder. Dennoch verfehlten die Dossiers die beabsichtigte Wirkung nicht.
Ruppert: "Schließlich brauchte man damals für einen Kredit oder eine Arbeitsstelle eine Unbedenklichkeitsbescheinigung des Kreisleiters." Adolf Wedderwille gehörte zu den dominierenden Gestalten. Er war über zwölf Jahre als NS-Kreisleiter mächtigster Mann in Lippe. Wedderwille zog auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene alle Fäden. Er ist auch als Antisemit der übelsten Sorte in die Geschichte der Region eingegangen. Ruppert hat neben allen persönlichen Unterlagen des Kreisleiters auch dessen Nozizbuch aufgestöbert. Es enthält unter anderem kurze Anmerkungen über bevorstehende Gestapo-Deportationen jüdischer Mitbürger.

Von besonderer Bedeutung ist außerdem die zeitgeschichtliche Sammlung, die der damalige Leiter der Landesbibliothek, Eduard Wiegand, über Aspekte der "Kampfzeit" der NSDAP hat anlegen lassen. Kein Wunder, dass man im Staatsarchiv jetzt mit einer Flut von Anfragen rechnet.


Detmold@lz-online.de

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