Lippische Landes-Zeitung ,
05.09.2007 :
Zeugnisse des Grauens / Mehr als 50 Jahre schlummerten alte Tagebuchaufzeichnungen auf einem Sabbenhausener Dachboden
Lügde-Sabbenhausen (an). Ein paar vergilbte Zettel mit einer sauberen Jungenhandschrift, offenbar aus einem Schreibheft gerissen: Plötzlich war alles wieder da. Der Fliegeralarm, die marschierenden Nationalsozialisten, das abgeschossene Flugzeug - ein Dachbodenfund brachte den Sabbenhausener Prälaten Heinrich Festing jäh zurück in seine Jugendzeit. Doch der Reihe nach.
Auf dem Dachboden der ehemaligen evangelischen Schule in Sabbenhausen fanden zwei städtische Mitarbeiter eine unscheinbare Kiste mit alten Lebensmittelmarken, Reichsmarkbanknoten und eben jenen Niederschriften, die auf Umwegen ins Haus Festing gelangte.
Heinrich Festing hat gerade die Sabbenhausener Dorfchronik und Festschrift zum Ortsjubiläum verfasst und sammelt alles, was mit der Geschichte seines Heimatortes zusammenhängt. "Als ich plötzlich meine eigene Handschrift sah, war ich sehr erschüttert", sagt Festing. Das alte Grauen wurde wieder wach: "Der Luftkampf am 22.4.1944" lautet die Überschrift über den Zeilen, die sich wie ein Auszug aus einem Tagebuch lesen. "Schon seit ein paar Tagen kamen wieder feindliche Flieger über die Grenze geflogen. Auch über unserer Gegend fand eine Luftschlacht statt. Die deutschen Jäger schossen heftig auf die angloamerikanischen Flugzeuge los. Auch auf unser Nachbar sein Haus ist eine Kugel gekommen, zwei Dachpfannen waren gleich kaputt. Auf einmal hörten wir ein mächtiges Gebrumm. Ein amerikanischer Bomber war kurz vor Lügde abgestürzt. Das Flugzeug hatte 10 Mann Besatzung, 3 Mann haben sich durch den Fallschirm gerettet, 7 waren gleich tot."
Zwölf Jahre war Heinrich Festing damals alt. Wie Jungs in diesem Alter so sind, war er gemeinsam mit seinen Schulkameraden an die Absturzstelle gelaufen. "Ich sehe es noch vor mir, als ob es gestern gewesen wäre: Noch bevor wir an das Flugzeugwrack kamen, lag da auf der Erde eine abgetrennte Hand."
Festings Klassenkamerad Dieter Pöpperling hat die Ereignisse ebenfalls aufgeschrieben: "Wir liefen sofort hin und guckten, es war aber sehr schlomm, denn es waren 7 tot und 3 sind mit dem Fallschirm heruntergesprungen. Zwei haben sich in Lügde im Krankenhaus gemeldet und einer ist weg."
Was um alles in der Welt hat die Jungen dazu gebracht, mitten im Krieg diese Ereignisse aufzuschreiben? Das kann Heinrich Festing genau erklären: "Unser Lehrer Karl-Otto Remmert hat mich und zwei meiner Mitschüler aufgefordert, eine Art Tagebuch zu führen und unsere Erlebnisse in eine große Kladde zu schreiben. Diese Kladde sollte später Teil einer Dorfchronik werden."
"Das war für mich als Kind nicht einfach"
Prälat Heinrich Festing
Karl-Otto Remmert war ein Mitläufer. Kein überzeugter Nazi, aber er achtete schon darauf, dass die Niederschriften für die damalige Zeit politisch korrekt waren. "Ich musste auch mal einen Aufsatz über den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich schreiben." Festing vermutet, dass der Lehrer nach dem Krieg die verfänglichsten Seiten aus der Kladde herausgerissen hat, damit er keinen Ärger mit den Besatzern bekam, und dass diese Seiten zusammen mit den Lebensmittelmarken in der Kiste auf dem Dachboden überdauerten.
Für Festing selbst war die Kindheit im Dritten Reich ein Leben zwischen zwei Welten, und das war nicht leicht für den Schuhmachersohn. Sein Vater war ein erklärter Nazigegner und machte daraus auch keinen Hehl. Abends hörte er häufig den Feindsender. Eine Uniform der Hitlerjugend hätte er bei seinem Sohn niemals geduldet. "Das war für mich als Kind nicht so einfach. Ich musste immer hinten mitmarschieren, weil ich ja keine Uniform hatte." Doch letzten Endes hat ihn die Haltung seines Vaters fürs Leben geprägt. "Mir ist immer jemand lieber, der seine Meinung offen vertritt, als einer, der sich so durchlaviert."
Bildunterschrift: Schulentlassung: Erich Marx, Willi Reker, Willi Thiele, Werner Gröne, Maria Göbbels, Helmut Wolf, Heinrich Festing, Kuno Reker und Josef Marx stellten sich im April 1945 zum Erinnerungsfoto auf.
Bildunterschrift: Stumme Zeugen aus Papier: Alte Banknoten, eine Lebensmittelkarte und die Tagebuchaufzeichnungen der Sabbenhausener Schüler schlummerten auf dem Dachboden der alten Schule.
Blomberg@lz-online.de
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