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Schaumburger Zeitung ,
28.02.2004 :
Nazi-Verhöre und heile Provinzwelt / Leitender Oberstaatsanwalt Gerhard Ihle wird 80
Von Stefan Lyrath
Bückeburg. Malaria, Tuberkulose, furchtbarer Hunger: Niemals wird Gerhard Ihle die fünf Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft vergessen, und noch heute laboriert der 79-Jährige an den Folgen.
Die Nazis waren verantwortlich für seine Qualen, für Tod und Elend von Millionen. Trotzdem ließ sich der Staatsanwalt Ihle in den Kriegsverbrecherprozessen der sechziger Jahre nicht von blindem Eifer oder gar Rachegefühlen leiten. „Ich bin ganz sachlich an die Ermittlungen gegangen“, sagt er. Am morgigen Sonntag wird Gerhard Ihle, von 1974 bis 1989 Leitender Oberstaatsanwalt in Bückeburg und damit höchster Ankläger, 80 Jahre alt.
Noch heute kann sich der Ruheständler darüber erregen, dass „die größten Nazis“ ihm gegenüber in Vernehmungen alles zugegeben hatten, den Holocaust dann vor Gericht jedoch leugneten. Ihle, damals politischer Dezernent bei der Staatsanwaltschaft Hannover, war 1964 und 1968 zweimal in Israel – „als einer der ersten deutschen Staatsanwälte“, wie der gebürtige Dresdner hinzufügt.
In jenen Jahren wurde ihm eins bewusst: „Mein Schicksal war überhaupt nicht vergleichbar mit dem Leiden der Juden in den Lagern. Was diese Menschen mir erzählten, überstieg bei weitem alles, was ich erlebt hatte.“ Dagegen war Bückeburg eine Art heile Welt. „Ein überschaubarer Bezirk, sehr gute Zusammenarbeit mit der Polizei und anderen Dienststellen wie der Bundeswehr“, fasst Ihle zusammen. „Man kannte sich.“
Auch im Ruhestand konnte Ihle von den Paragraphen zunächst nicht lassen. Ehrenamtlich vertrat er in den neunziger Jahren vor ostdeutschen Kirchenbehörden einen Magdeburger Pastor, der zum Stasi-Opfer geworden war. „Viel Aufwand, fünf Jahre lang“, erinnert sich der Vollblut-Jurist. „Aber heute ist der Pastor wieder in Amt und Würden.“ Ständiger Gast war Ihle auch bei der Münchner Akadamie für Zeitgeschichte.
All das ist vorbei. Aus der Öffentlichkeit hat sich der 79-Jährige zurückgezogen. Ihle ist fast erblindet und auch sonst gesundheitlich angeschlagen. Aufhören zu arbeiten mag er trotzdem nicht. Vier Bände einer noch unvollendeten Familienchronik sind fertig, und zurzeit spricht der Nazi-Jäger seine Lebenserinnerungen auf Band. Eine Tochter schreibt die Texte nieder. Jeden Tag sitzt Gerhard Ihle überdies an der Orgel, seine große Leidenschaft.
28./29.02.2004
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