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Bielefelder Zeitung / Westfalen-Blatt , 30.06.2007 :

Am Ende steht der Kompromiss / Die Besetzung der Paul-Gerhardt-Kirche geht nach drei Monaten zu Ende

Bielefeld (bp/hu/MiS). Die Besetzung der Paul-Gerhardt-Kirche ist nach 96 Tagen friedlich beendet worden. Besetzer und Kirchengemeinde einigten sich unter Vermittlung von Altpräses Hans-Martin Linnemann am späten Donnerstagabend auf eine gemeinsame Vereinbarung.

Danach können die Mitglieder der Bürgerinitiative zum Erhalt der Paul-Gerhardt-Kirche das Gotteshaus noch bis zum 12. September nutzen. Im Gegenzug erklärten sie sich bereit, die Besetzung sofort zu beenden. Damit ist der Weg für die Verkaufsverhandlungen mit der Jüdischen Kultusgemeinde frei. Auf den 13./14. September fällt in diesem Jahr der Tag des jüdischen Neujahrsfestes Rosch-Ha-Schana.

Altpräses Linnemann war mit einem Einigungsvorschlag in die vierte Verhandlungsrunde gegangen. Er habe trotz der "schwierigen Gespräche" den Eindruck gehabt, dass diesmal beide Seiten an einer Lösung interessiert gewesen seien. So wurde bis 22.45 Uhr an Formulierungen gefeilt, ein handschriftlich erstelltes Exemplar kopiert und schließlich von den Vertretern beider Seiten unterschrieben. "Ich hoffe, das Ergebnis wird mit Leben gefüllt", sagte Linnemann.

Alfred Menzel, Pfarrer der fusionierten Gemeinde Neustadt-Marien, der für die Gespräche eigens seine Urlaubsradtour entlang der Oder unterbrach, sagte, ihm sei ein "Stein vom Herzen gefallen". Er ist froh darüber, dass es innergemeindlich gelungen sei, einen "guten Kompromiss" zu finden. Man habe miteinander gerungen, aber "man muss einen Streit auch beenden können". Menzel ist überzeugt davon, dass sich das Leben in der Gemeinde normalisieren werde: "Jetzt gilt es, die Rahmenvereinbarungen konstruktiv umzusetzen."

Der Sprecher der Besetzer, Hermann Geller, sagte, man habe "das Optimale herausgeholt. Es ist schwer, gegen verkrustete Strukturen anzukämpfen." Man habe das "Beharrungsvermögen der Amtskirche unterschätzt". Die "sauberste Lösung" wäre seiner Ansicht nach gewesen, die Fusion der Paul-Gerhardt- und der Neustädter Mariengemeinde rückgängig zu machen. Für die Mitglieder der Bürgerinitiative sehe er jedenfalls keine Zukunft in der gemeinsamen Gemeinde. "Es wird eine Abstimmung mit den Füßen geben, und viele werden in andere Gemeinden wechseln."

Ganz vergeblich sei die Besetzung der Kirche aber nicht gewesen: "Einige sind dadurch sicher wach geworden." Der Vorwurf, für das Scheitern der Einrichtung einer jüdischen Synagoge verantwortlich zu sein, wäre für die Bürgerinitiative schwer zu ertragen gewesen, sagte Geller.

Die Landeskirche bittet jetzt alle Beteiligten, den "Weg der Verständigung fortzusetzen und sich intensiv zu bemühen, den Bruch in der Gemeinde Neustadt Marien zu heilen", sagte Dr. Rainer Dinger, theologischer Ortsdezernent. Nunmehr sei der Weg für eine neue Synagoge in Bielefeld frei.

Dass die Besetzung beendet ist, bedeute noch nicht den Verkauf der Kirche an die Jüdische Kultusgemeinde, sagte Astrid Weyermüller als Sprecherin des Kirchenkreises Bielefeld. Die konkreten Verkaufsverhandlungen unter Leitung von Verwaltungsdirektor Klaus-Peter Johner auf Seiten des Kirchenkreises würden in der kommenden Woche aufgenommen. Man wolle jetzt "in die Zukunft denken". Jetzt soll zunächst das ehemalige Pfarrhaus so schnell wie möglich umgebaut werden, damit dort Veranstaltungen der Gemeinde stattfinden können.

Irith Michelsohn nahm als Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde das Ende der Besetzung "mit Genugtuung" zur Kenntnis. Der Vorstand der Kulturgemeinde sehe den Verkaufsverhandlungen zuversichtlich entgegen.

Die Vereinbarung im Wortlaut:

"Den Weg der Versöhnung beschreiten"

Der Bevollmächtigtenausschuss der Ev.-Luth. Neustädter-Marien-Kirchengemeinde und die Bürgerinitiative zum Erhalt der Paul-Gerhardt-Kirche sind – trotz bestehender Meinungsverschiedenheiten – übereingekommen:

1. Die Bürgerinitiative zum Erhalt der Paul-Gerhardt-Kirche beendet die Besetzung der Paul-Gerhardt-Kirche mit sofortiger Wirkung. Sie darf die Paul-Gerhardt-Kirche weiter nutzen. Die Nutzung endet am 12.09.2007.

2. Die Neustädter Marien-Kirchengemeinde zieht die Anzeigen wegen Hausfriedensbruch hiermit zurück. Sie verzichtet auf die angekündigten zivilrechtlichen Maßnahmen.

3. Die vom Kirchenkreis Bielefeld zugesagten Umbaumaßnahmen am ehemaligen Pfarrhaus an der Diesterwegstraße zur Ermöglichung eines aktiven Gemeindelebens im Paul-Gerhardt-Bezirk werden so schnell wie möglich begonnen.

4. Zwischen den Beteiligten sollen Gespräche geführt werden, mit dem Ziel, die entstandenen Verletzungen auszuräumen und wieder zu einem guten gemeindlichen Miteinander zurück zu finden.

5. Die Neustädter Marien-Kirchengemeinde sichert zu, dass sie sich nachdrücklich dafür verwendet, dass die – auch bisher – zu Gottesdiensten eingeladenen Pfarrer und Gottesdienstbesucher keine disziplinarischen oder andere Maßnahmen zu fürchten haben.

Bielefeld, den 28.06.2007

Altpräses Hans-Martin Linnemann

Für die Neustädter Marien-Kirchengemeinde:

Alfred Menzel, Pfarrer
Ruth M. Seiler
Martin Uffmann
Prof. Joachim Frohn

Für die Bürgerinitiative zum Erhalt der Paul-Gerhardt-Kirche:

Hermann E. Geller
Ulrike Stiewe
Claus Grünhoff
Christa Lohfink
Susanne Stoffels

Chronik der Ereignisse:

1. Mai 2005: Fusion der beiden Gemeinden Neustadt Marien und Paul Gerhardt zur neuen Neustädter Marien-Gemeinde.
8. Dezember 2005: Der aus Vertretern der beiden Gemeinden gebildete Leitungsauschuss beschließt die Aufnahme von Verkaufsverhandlungen mit der Jüdischen Kultusgemeinde über die Paul-Gerhardt-Kirche.
8. September 2006: Zum Erhalt des Gotteshauses als evangelische Kirche gründet sich eine Bürgerinitiative.
25. März 2007: Letzter offizieller Gottesdienst in der Paul-Gerhardt-Kirche. Mitglieder der Bürgerinitiative bleiben in der Kirche und erklären sie für besetzt.
29. März 2007: Die Kirchengemeinde erstattet gegen die Besetzer Anzeige wegen Hausfriedensbruchs.
1. April 2007: Die Landeskirche entwidmet die Paul-Gerhardt-Kirche.
15. Juni: Die Besetzer geben die Kirche nachts frei.
28. Juni: Einigung über das Ende der Besetzung.

Bildunterschrift: Hermann Geller, Sprecher der Besetzer, packt nach 96 Tagen in der Paul-Gerhardt-Kirche seine Sachen. Die Besetzung ist nach Vermittlung von Altpräses Hans-Martin Linnemann nach einer letzten Verhandlungsrunde friedlich zu Ende gegangen

Bildunterschrift: Eberhard David, Oberbürgermeister: "Ich bin sehr froh darüber, dass die Gespräche letztlich zu einem einvernehmlichen Ende geführt haben."

Bildunterschrift: Regine Burg, Superintendentin des Kirchenkreises: "Ich bin erleichtert, dass die Verhandlungen zu einem friedlichen Ende der Besetzung geführt haben."

Bildunterschrift: Dr. Rainer Dinger, theologischer Ortsdezernent der Landeskirche: "Es freut uns, dass es der Gemeinde selbst gelungen ist, die Besetzung zu beenden."

Bildunterschrift: Irith Michelsohn, Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde: "Wir nehmen das Ergebnis mit Genugtuung zur Kenntnis. Jetzt können wir konkret verhandeln."

Bildunterschrift: Alfred Menzel, Pfarrer der Neustädter Mariengemeinde: "Ein guter Kompromiss - eine große Leistung von allen, die an den Verhandlungen beteiligt waren."

30.06./01.07.2007
bielefeld@westfalen-blatt.de

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