Mindener Tageblatt ,
14.04.2007 :
Sport und Kultur jenseits des NS-Staates / Rabbiner Julius Hellmann baut nach der Ausgrenzung gesellschaftliches Leben der Mindener Juden auf
Minden (y). Die Ausgrenzung von Juden und die Gleichschaltungspolitik der Nazis machten ab Februar 1933 auch vor der Jüdischen Gemeinde in Minden nicht halt. Gleichwohl gelang es, ein sportliches und kulturelles Leben zu organisieren.
Von Hans-Werner Dirks und Kristan Kossack
Rabbiner Julius Hellmann rief im Februar 1934 den jüdischen Sportverein "Hellmania" ins Leben. In diesem Verein wurde auf einem Grundstück an der Bleichstraße/Brühlstraße laut des Mindener Zeitzeugen Kurt Scheurenberg unter der sportlichen Anleitung von Alfons Simon (geb. 1908) Fußball gespielt, Leichathletik betrieben und geturnt. Die Fußballmannschaft wurde maßgeblich von Günther Hellmann, dem Sohn des Rabbiners mittrainiert. Man reiste auch zu Turnieren jüdischer Mannschaften quer durch Norddeutschland.
Nur wenige Jahre dauerte die Duldung durch die braunen Machthaber. Die "Hellmania" musste ihre Aktivitäten nach dem Novemberpogrom 1938 einstellen. Der am Sportplatz an der Bleichstraße gelegene Geräteraum wurde in der Pogromnacht demoliert. Fußbälle, Diskusse, Stoppuhr, Bandmaß, Startpistole und ein Speer wurden auf die Straße geworfen und zum Teil gestohlen.
Auch in anderen Bereichen reagierte die jüdische Jugend noch wenige Jahre zuvor auf die Ausgrenzung mit Selbstorganisation. So handelte ein Schreiben der Bielefelder Gestapo vom 5. Juni 1934 von Aktivitäten junger Juden, die teilweise uniformähnliche Kleidung trugen. Allerdings waren die Ziele der einzelnen Gruppen mitunter sehr gegensätzlich.
Das so genannte "Schwarze Fähnlein" trug schwarze Kleidung, war militärisch aufgebaut und strebte die Integration in den NS-Staat als eine Art jüdischer Elite an. An den illegalen Zeltlagern in der Region - unter anderem in Bissendorf - nahm Isidor Kirschroth aus Minden teil.
Der "Bund deutsch-jüdischer Jugend" (BDJJ) zielte ebenfalls auf die Integration im Deutschtum ab. Die 1934 gegründete Sportgruppe "Hellmania" bildete eine Mindener Ortsgruppe des BDJJ und wies ähnliche Mitgliederstrukturen auf, wie der 1933 unter dem Druck der Nazis aufgelöste "Jüdische Jugendverein".
Dem BDJJ und dem "Schwarzfähnlein" standen zionistische Jugendverbände gegenüber, die die Auswanderung und kollektive Ansiedlung der Juden in Palästina anstrebten. Sie betrieben so genannte Haschara-Farmen, um ihre Mitglieder handwerklich auf die Auswanderung vorzubereiten. Für Minden ist nur überliefert, dass die Polizei 1935 für die geschlossene Veranstaltung einer zionistischen Jugendgruppe das Tragen von Uniformen genehmigt hat.
Da Juden der Zugang zum kulturellen Leben verwehrt wurde, gründete Hellmann 1934 auch die Ortsgruppe "Jüdischer Kulturbund Minden". Sie war Ableger des "Reichsverbandes jüdischer Kulturbünde" mit Geschäftssitz in Berlin. In den Jahren bis 1938 entstand ein jüdisches Kulturprogramm mit überregionaler Bedeutung. Erster Vorsitzender der Mindener Ortsgruppe wurde der Fabrikant Nathan Michelsohn. Edith Meier (geb. Bachmann/1896) wurde Sekretärin. Ihre Eltern Kurt und Mathilde Bachmann hatten ein Geschäft an der Martinitreppe.
Der mittlerweile verstorbene Zeitzeuge Otto Michelsohn erinnerte sich vor mehr als 20 Jahren: "Der Kulturbund war sehr segensreich. Plötzlich gab es ein riesiges intellektuelles und künstlerisches Reservoir."
Edith Meier entpuppte sich als treibende Kraft bei der Kulturarbeit. Wenn die Gemeinde selbst Bühnen- oder Musikstücke aufführte, führte sie Regie und trat selbst auch als Schauspielerin in Aktion. Es gab daneben etliche Veranstaltungen mit jüdischen Wanderbühnen, Tanzveranstaltungen und Gastvorträgen. Meier betreute die Unterbringung auswärtiger Sänger, Schauspieler und Redner. Ferner war sie beauftragt mit der Werbung für sämtliche Veranstaltungen und der Werbung von Mitgliedern im Kulturbund.
Da zur Synagoge nur ein paar Nebenräume gehörten, die sehr klein waren und es der Gemeinde nicht möglich war, Säle anzumieten, wurden sämtliche Veranstaltungen des Kulturbundes in der Synagoge abgehalten. Diese Regelung war innerhalb der Gemeinde umstritten, aber der Rabbiner und der Vorstand sahen dies als einzige Möglichkeit an, die Zusammenkünfte überhaupt durchzuführen
Otto Michelsohn meinte rückblickend, dass sich die Mindener Juden in Reaktion auf die allgemeine Diskriminierung durch die Kulturarbeit auch wieder enger auf ihre religiösen Grundwerte besonnen hätten. In Minden habe es in Hinblick auf politische Einstellungen fast nur deutsch-national orientierte Juden gegeben. "Wir lehnten den Gedanken Palästina ab. Dass er in vielen Köpfen, aus Berechnung, nicht aus Überzeugung Einzug genommen hatte, ist dadurch zu erklären, dass viele in der Palästina-Auswanderung eine Möglichkeit sahen, sich zu retten. Es ist ja ein großer Teil der Jugend nach Palästina gebracht worden, und die Älteren haben gedacht, sie kommen da mit ihren Kindern wieder zusammen."
Rechtzeitig der Ermordung durch die Nazis war auch Edith Meier entgangen. Nach ihrer Kulturarbeit in Minden konnte sie mit Tochter Myriam und ihren Eltern nach Südamerika auswandern.
Hans-Werner Dirks aus Lavelsloh ist Diplom-Sozialwissenschaftler. Er arbeitet seit 1987 zur deutsch-jüdischen Emigration, unter anderem für die jüdische Kultusgemeinde Minden. Kristan Kossack aus Minden beschäftigt sich mit regionaler Zeitgeschichte (19. und 20. Jahrhundert) und hat diverse Veröffentlichungen verfasst (www.zg-minden.de).
Bildunterschrift: An einem illegalen Zeltlager des „Schwarzen Fähnleins“ in Bissendorf nahm auch Isidor Kirschroth aus Minden teil.
Bildunterschrift: Edith Meier gestaltete die Kulturarbeit wesentlich mit.
Bildunterschrift: Die Mindener Kindergruppe der deutsch-jüdischen Jugend im Jahr 1934. Von links: Vermutlich Eva Ingberg, Daniel oder David Ingberg, Ferdinand Kuczynski, unbekannt, Adolf Kuczynski, Charlotte Kirschroth, Charlotte Kuczynski (heute Rosenzweig) und Günter Hellmann. Hintergrund: Max Gerstensang.
14./15.04.2007
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