Mindener Tageblatt ,
30.03.2007 :
"Haben Gefangene nicht mit Erde beworfen" / Zeitzeuge erinnert sich an Leben mit dem Arbeitserziehungslager Lahde / Schüler legen Kranz am Gedenkstein nieder
Petershagen-Lahde (Wes). Die Jungen und Mädchen der Klassen 10 A und 10 B1 der Hauptschule und 9 A und 10 B der Realschule Lahde legten gestern Vormittag zur Erinnerung an die Opfer des Arbeitserziehungslagers Lahde am Gedenkstein an der Dingbreite einen Kranz nieder. Eingeladen hatte die Kulturgemeinschaft.
Von Ulrich Westermann
In dem Lager kamen von 1943 bis 1945 647 Menschen zu Tode. Sie verhungerten, wurden hingerichtet oder starben an Erschöpfung. Das Arbeitserziehungslager wurde am 4. April 1945 aufgelöst.
Vor den heranrückenden Alliierten wurden die Insassen in Richtung Hannover in Marsch gesetzt. Ein großer Teil der geschundenen Menschen kam dort nicht an. Dieser "Todesmarsch nach Hannover" ist ein Teil der traurigen Geschichte des Arbeitserziehungslagers.
An der Kranzniederlegung nahm auch Jürgen Borggrefe aus Lahde teil, der im Frühjahr 1945 acht Jahre alt war. Als Zeitzeuge berichtete er über Ereignisse, die das Leid der Lagerinsassen verdeutlichten.
Kulturgemeinschaftsvorsitzender Friedrich Niemeier freute sich über die große Beteiligung an der Feierstunde. Wichtig sei, den vielen Opfern des Lagers zu gedenken und den Personen mit einem klaren "Nein" entgegenzutreten, die die Verhältnisse aus dem Nationalsozialismus wieder einführen wollten.
"Besonders für die jungen Menschen ist es von großer Bedeutung, jemand kennenzulernen, der damals vieles mit einigen Augen gesehen hat", unterstrich Niemeier. Bürgermeisterin Marianne Schmitz-Neuland dankte den Schülerinnen und Schülern für die Mitgestaltung der Gedenkfeier. "Das Leid ist nicht abstrakt, sondern hat hier vor unserer Haustür stattgefunden."
Texte zu den Themen "Zustände im Lager" und "Jeder Häftling war Freiwild" trugen die Hauptschülerinnen Janine Teschner, Janine Lampmann und Stefanie Schlegel vor. Dabei ging es um schmutzige, verlauste und überfüllte Wohnbaracken, Lumpen als Kleidung und das Recht der Wachmänner, Häftlinge zu erschlagen oder zu erschießen. Hinzu kamen Wortbeiträge "Man muss im richtigen Moment ,Nein` sagen". Den Kranz am Mahnmal legten Charlene Brehmeier und Denis Röse nieder.
"Wo war denn da Gott?" fragte Gemeindepfarrer Hans-Hermann Hölscher. "Da sind wir ganz gut drin, Gott Dinge in die Schuhe zu schieben. Wir wollen nicht vergessen, dass es unsere Geschichte ist", betonte der Seelsorger.
Jürgen Borggrefe, inzwischen 70 Jahre alt, berichtete, dass sein Bruder Willi das einzige existierende Foto vom Arbeitserziehungslager gemacht habe. Die Häftlinge seien täglich in Lahde zu beobachten gewesen.
"Immer so gegen 18 Uhr trafen sie von ihrer Arbeitsstätte im Steinbruch in Steinbergen am Bahnhof ein. Von dort wurden sie von Wachposten mit großen Hunden auf der Bahnhofstraße und Nienburger Straße zum Arbeitserziehungslager an der heutigen B 482 geführt", erinnerte sich Jürgen Borggrefe. Es sei ein trauriger Anblick gewesen. Die in Lumpen gekleideten Gefangenen hätten sich gegenseitig vor Schwäche gestützt, unzureichendes Schuhwerk getragen oder seien sogar barfuß gewesen.
"Häufig sahen wir auch Transporte mit einem oder mehreren Toten. Ein großer Handwagen wurde von zwei Häftlingen gezogen und zum Friedhof nach Bierde gebracht. Ein Wachmann war immer dabei", berichtete der 70-jährige Lahder.
Ein Thema waren die Straßenspiele der Kinder. Dazu habe das gegenseitige Bewerfen mit Erdklumpen gehört. "Ein Wachposten hat uns aufgefordert, schwer arbeitende Gefangene im Bereich der heutigen Schiller- und Goethestraße mit Erdkluten zu traktieren. Wir aber haben unsere Ziele nicht geändert."
Zudem erinnerte Borggrefe sich an einen Wächter, der sich nicht so Menschen verachtend verhalten habe: "Zwei Häftlinge wurden abkommandiert, um in Lahde Gräben auszuheben. In der Mittagszeit machte uns der Wachmann ein deutliches Zeichen, dass wir den Gefangenen Essen geben durften. Es gab Steckrübensuppe mit Speck. Unglaublich, welche Mengen sie davon aßen".
Auf den Beginn des Todesmarsches am 2. April 1945 mit einer langen Kolonne ausgemergelter Gestalten ging Borggrefe ebenfalls ein. "Am nächsten Tag hörte man das Grollen der nahenden Front. Es war am 6. April, als die Befreier in Lahde einzogen. Vier Tage zu spät".
Bildunterschrift: Angehörige der Hauptschule Lahde legten gestern Vormittag am Gedenkstein für die Opfer des Arbeitserziehungslagers einen Kranz nieder.
Bildunterschrift: Der 70-jährige Jürgen Borggrefe erinnerte an die Jahre, als im Arbeitserziehungslager die Häftlinge geschunden wurden.
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