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Mindener Tageblatt , 10.03.2007 :

Am Ende zählt nur die Transportnummer / Prediger Sally Katzenstein und Ehefrau Gietha erhalten hinteren Platz auf Warteliste / Ermordung in Auschwitz

Minden (y). Noch bis in die letzten Kriegsjahre hinein unterrichtete der Lehrer und Prediger Sally Katzenstein einzelne Schüler und versuchte, seelsorgerisch tätig zu sein. Am Ende wurde auch er zur Ermordung in das Vernichtungslager abtransportiert.

Von Hans-Werner Dirks und Kristan Kossack

Nachdem Rabbiner Hellmann 1939 nach England emigriert war, nahm Sally Katzenstein (1890 - 1945) seine Vertrauensrolle in der jüdischen Gemeinde in Minden ein. Er war Lehrer und Prediger, sowie Mitglied in der Deutschen Volkspartei - die nationalliberale Partei wurde im Sommer 1933 von den Nazis aufgelöst.

Bevor Katzenstein 1935 nach Minden kam, lebte er mit seiner Familie in Soest. Dort hatte er die jüdische Grundschule bis zur Schließung im Jahr 1934 geleitet. Außerdem fungierte er für die Soester jüdische Gemeinde als Vorbeter. Katzenstein erhielt wegen der neuen Ariergesetze im öffentlichen Dienst Berufsverbot und wurde 1934 in den Ruhestand versetzt.

Max Ingbergs Schwester, Paula Jackson, berichtet über Sally Katzenstein, dass er sie nach ihrer Arretierung im Oktober 1938 im Mindener Polizeigefängnis besucht und sich für ihre Freilassung eingesetzt hat. Sie kam unter der Auflage wieder frei, Deutschland innerhalb von fünf Tagen zu verlassen. Der Prediger habe ihr auch Geld zur Beschaffung eines Visums zugesteckt.

Im Kreis Minden war bereits im Sommer 1938 ein gesonderter Unterricht für jüdische Schulkinder in der Diskussion. Laut des damaligen Kreisschulrats hatte sich Katzenstein dazu bereit erklärt. Als Schulraum stand, trotz Protestes der Kultusgemeinde, der Betsaal im Gemeindehaus an der Kampstraße 6 im Gespräch.

Am 15. November 1938 wurde per Erlass aus Berlin Juden jeder Besuch von "deutschen Schulen" nicht länger gestattet. Sally Katzenstein war schon in den Pogromtagen am 9. und 10. November vorübergehend nach Buchenwald verschleppt worden. Der Gemeindesaal war durch das Niederbrennen der in unmittelbarer Nähe befindlichen Mindener Synagoge zerstört worden und nicht länger als Schulraum brauchbar. Im Juli 1942 wurde dann jüdischen Kindern ohnehin jeglicher Unterricht untersagt.

Diesen Verhältnissen konnte sich die jüngere Tochter Ruth-Rika Katzenstein (geb. 1924) entziehen. Auch ihr wurde in Minden als Jüdin der Besuch des Lyzeums (heute Herdergymnasium) verwehrt. Sie lebte bis 1939 bei den Eltern an der Wilhelmstraße 18. Kurz vor Kriegsausbruch erhielt sie noch ein Schülerzertifikat für Palästina. Später lebte sie in Glasgow.

Die ältere Tochter Elfriede (geb. 1914) war Kindergärtnerin und arbeitete in Berlin-Weißensee in einer Taubstummenanstalt. Schon nach dem Erlass der Nürnberger Rassengesetze im September 1935 entschloss sie sich, Deutschland zu verlassen. Sie gab im Oktober 1935 ihre Stelle in Berlin auf und kehrte zu den Eltern nach Minden zurück. Im Sommer 1936 heiratete sie und im Oktober setzte sie sich mit ihrem Ehemann nach Italien ab. 1940 wanderte Elfriede nach Palästina aus.

Als sie drei Jahre zuvor ernsthaft erkrankt war, hatte Sally Katzenstein vergeblich versucht, seine Tochter in Italien zu besuchen. Die Mindener NSDAP vereitelte die Reise mit der Begründung: "Die Kreisleitung kann diesem Juden die Zuverlässigkeit einfach nicht bescheinigen. Wenn er auch nach außen hin sich vielleicht ruhig verhalten hat, so bleibt doch immerhin zu bedenken, dass heute kein Jude für das nationalsozialistische Deutschland eingestellt ist."

Die Schikanen im NS-Staat setzten sich mit zunehmender Härte fort. 1941 musste Sally Katzenstein mit seiner Ehefrau Gietha (1891 - 1945) aus der Wilhelmstraße in ein "Judenhaus" umziehen. In ihrem Fall handelte es sich um die umgestalteten Reste des ehemaligen Gemeindehauses an der Kampstraße. Immer neue jüdische Familien wurden bis zu ihrer Deportation hier eingewiesen. Im Gemeindehaus haben laut Zeitzeugen zeitweise bis zu sieben Familien gelebt - mit einer einzigen Toilette. Häufig, auch nachts, erschienen Vertreter der Geheimen Staatspolizei, um einzelne Juden zum Verhör zu holen und um zu kontrollieren, ob alle Gemeldeten anwesend waren. Trotz der widrigen Bedingungen soll Sally Katzenstein nach Angaben der Kultusgemeinde bis zu seiner Deportation einzelne jüdische Kinder unterrichtet haben und - soweit es die eingeschränkte Bewegungsfreiheit zuließ - seelsorgerlich tätig geworden sein.

Katzenstein hatte seit seiner Verschleppung nach Buchenwald immer wieder vergeblich versucht, für sich und seine Ehefrau Ausreisevisa zu beschaffen. Das amerikanische Konsulat in Stuttgart bescheinigte ihm 1939 Platz 33 976 auf der Warteliste für Visa-Antragsteller.

Das Ehepaar wurde im Mai 1943 ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Im Herbst 1944 kamen beide mit der Bahn nacheinander ins Vernichtungslager Auschwitz. Als letztes Lebenszeichen von ihnen sind die Namen unter den Transportnummern vom 29. September 1944 und 4. Oktober 1944 im Stadtarchiv Soest überliefert.

Hans-Werner Dirks aus Lavelsloh ist Diplom-Sozialwissenschaftler. Er arbeitet seit 1987 zur deutsch-jüdischen Emigration, unter anderem für die jüdische Kultusgemeinde Minden. Kristan Kossack aus Minden beschäftigt sich mit regionaler Zeitgeschichte (19. und 20. Jahrhundert) und hat diverse Veröffentlichungen verfasst (www.zg-minden.de).

Bildunterschrift: Die Warteliste für den Visa-Antrag zur Ausreise in die USA war zu lang. Der Mindener Prediger Katzenstein wurde von den Nazis ermordet.

Bildunterschrift: Auch Gietha Katzenstein starb im Vernichtungslager.

Bildunterschrift: Sally Katzenstein wurde in Auschwitz ermordet.

10./11.03.2007
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