Mindener Tageblatt ,
20.01.2007 :
Gemeindeleben unter dem Druck des Nazi-Regimes
Rabbiner Julius Hellmann erteilt Kindern bis in die NS-Zeit Religionsunterricht / Sohn am Besselgymnasium mehrfach misshandelt
Minden (mt/sk). In der NS-Zeit gestaltete sich die Arbeit des Rabbiners in Minden schwierig. Als die Nazis an die Macht gelangten, musste Julius Hellmann dem auf der jüdischen Gemeinde lastenden Druck so gut es ging standhalten.
Von Hans-Werner Dirks und Kristan Kossack
Julius Hellmanns Vorgänger im Amt des Rabbi in Minden war der Prediger Joseph Liepmannsohn (1851 - 1936). Der im Dezember 2006 verstorbene jüdische Zeitzeuge Karl Strauss, Sohn des Mindener Feldschlösschen-Brauereidirektors in der Zeit der Weimarer Republik, kannte Liepmannsohn noch als Religionslehrer und beschrieb ihn als eine "sehr beeindruckende Persönlichkeit".
Als Liepmannsohn 1936 starb war er 84 Jahre alt und im Ruhestand. Er wurde auf dem Mindener jüdischen Friedhof, Auf den Bülten / Erikaweg, beigesetzt.
Als Julius Hellmann in der Nachfolge in der NS-Zeit als Rabbiner tätig war, stand er einer weitaus schwierigeren Situation gegenüber als sein Vorgänger. Er lebte zusammen mit seiner Frau Magaret (1891 - 1985) und seinem Sohn Günther (1917 - 2006) zunächst an der Uferstraße 3 und später im Hause Pfingst an der Bäckerstraße 74 / 76 im 1. Stock.
Der Druck, der in den 30er- Jahren auf dem Rabbiner lastete, muss sehr groß gewesen sein. Wegen seines Amtes war er über die staatliche Willkür und Verfolgung gegen alle Mindener Juden informiert wie kein Zweiter. Die Auswirkungen von Boykottaufrufen, die ständig neuen Verbote, die ganze Palette alltäglicher kleinerer Schikanen durch eifrige "Volksgenossen" wurden ihm von seinen Gemeindemitgliedern zugetragen. Ihm vertrauten sie sich an, bei ihm liefen alle Informationen zusammen.
Er war es auch, der immer wieder Warnungen von einem Mindener Kripobeamten erhielt, wie sein Sohn Günther noch kurz vor seinem Tod, ebenfalls Ende 2006, berichtete. "Sie werden Besuch haben bei der morgigen Veranstaltung oder Predigt", soll der offenbar mit der NS-Rassenpolitik nicht einverstandene Beamte dem Rabbiner mitgeteilt haben.
Julius Hellmann erteilte bis in die NS-Zeit hinein den Kindern in den Schulen Religionsunterricht. So erlebte er die Ausgrenzung der jüdischen Kinder unmittelbar mit. Der eigene Sohn Günther war Schüler der Bessel-Oberrealschule und wurde in seiner Klasse als der einzige Jude besonders misshandelt. Er musste alleine in einer Bank sitzen und die Mitschüler durften nicht mit ihm reden. Im Juni 1933 wurde ihm von einem Mitschüler mit den Worten: "Dir Judenschwein werden wir es schon zeigen!" mehrfach in den Bauch getreten. Er wurde besinnungslos und zum jüdischen Arzt Dr. Robert Nussbaum gebracht. Dieser diagnostizierte einen doppelten Leistenbruch und später auch Magengeschwüre bei dem erst 16-Jährigen. Im Frühjahr 1934 musste Günther Hellmann die Schule verlassen.
Der damalige Direktor Walter Vogt hatte Julius Hellmann als Vater aufgefordert, den Sohn von der Schule zu nehmen, da er weder für die körperliche noch die seelische Gesundheit des Jungen auch nur einen Tag länger garantieren könne. 1936 flüchtete Günther ohne die Eltern in die USA. Es gab dort Verwandte seines Vaters.
Fortsetzung im Februar
Hans-Werner Dirks aus Lavelsloh ist Diplom-Sozialwissenschaftler. Er arbeitet seit 1987 zur deutsch-jüdischen Emigration, unter anderem für die jüdische Kultusgemeinde Minden. Kristan Kossack aus Minden beschäftigt sich mit regionaler Zeitgeschichte (19. und 20. Jahrhundert) und hat diverse Veröffentlichungen verfasst (www.zg-minden.de).
Bildunterschrift: Rabbiner Julius Hellmann setzte sich in der NS-Zeit für die jüdische Gemeinde ein.
Bildunterschrift: Vom öffentlichen Leben in Deutschland ausgesperrt, gründeten auch die Mindener Juden eigene Organisationen. So traf sich 1934 erstmals auch die Mindener Kindergruppe im Bund deutsch-jüdischer Jugend. Von rechts: Günther Hellmann, der Sohn des damaligen Rabbiners, Charlotte Kuczynski (heute Rosenzweig), Charlotte Kirschroth, Adolf Kuczynski, unbekanntes Kind, Ferdinand Kuczynski, Daniel oder David Ingberg, vermutlich Eva Ingberg. Hintergrund: Max Gerstensang.
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20./21.01.2007
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