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Die Glocke , 30.01.2004 :

Winfried Harthun überlebte Flüchtlingsdrama / "Gustloff"-Katastrophe tief in das Bewusstsein eingebrannt

Von Alfred Mense

Beckum (gl). Es gibt Menschen, die könnten allein mit einem Bericht über ihre Kindheit den Schulunterricht zum Thema deutsche Geschichte über Wochen füllen - und das mit hoher, oft erschütternder Authentizität. Winfried Harthun aus Beckum ist so ein Zeitzeuge.

Vor genau 59 Jahren zählte der damals Siebenjährige zu den rund 1000 Überlebenden einer der größten Flüchtlingskatastrophen am Ende des Zweiten Weltkriegs: Am 30. Januar 1945 sank das Passagierschiff "Wilhelm Gustloff" nach sowjetischen Torpedobeschuss in der Ostsee und riss mehr als 9.000 Menschen in den Tod. Obwohl Winfried Harthun selbst wie durch ein Wunder überlebte, hat die Tragödie seine Kindheits- und Jugendjahre auf schicksalhafte Weise geprägt: Seine Mutter, eine ältere Schwester und die zweijährige Nichte Bärbel starben in den eiskalten Fluten - die restliche Familie wurde für lange Zeit auseinander gerissen.

Noch heute, mit 66 Jahren, merkt man dem Beckumer an, dass die Erinnerung an die schrecklichen Kriegserlebnisse aufwühlen, dass die Ereignisse des 30. Januar 1945 und die schwierigen Jahre danach tiefe Spuren im Bewusstsein hinterlassen haben. Und dennoch ist Harthun überzeugt: "Andere mussten noch viel schwierigere Schicksale meistern. Ich habe einfach einen sehr guten Schutzengel gehabt. Und ich hatte das Glück, noch sehr jung zu sein. Das ganze Ausmaß der Tragödie, der ganze Schrecken wurde mir erst später in vollem Umfang bewusst."

Am 11. Dezember 1937 in Danzig geboren, verlebte Winfried Harthun mit drei älteren Geschwistern und seinen Eltern eine zunächst unbeschwerte Kindheit in Gotenhafen. Gegen Ende des Krieges wurde der Vater, der als Polizist tätig war, auf die Halbinsel Hela beordert. Mit dem Vormarsch der russischen Truppen Ende 1944 drängte der Vater die Familie zur Flucht. Zielort sollte Hamburg sein, wo die Schwiegereltern der ältesten Schwester Hertha lebten. Tochter Hertha gelang es tatsächlich, für sich, ihre zweijährige Tochter, ihre Mutter Frieda und die Brüder Otto-Heinz (16) und Winfried (7) Karten für ein Flüchtlingsschiff zu bekommen. Bereits am 29. Januar erfolgte die Einschiffung auf die "Wilhelm Gustloff", einem großen Fahrgastschiff der "Kraft-durch-Freude-Flotte".

Die Situation an Bord ist Winfried Harthun noch heute vor Augen. Die Schwester, die ihre zweites Kind erwartet, und ihre zweijährige Tochter werden in einer Kabine untergebracht. Mutter Frieda und ihre Söhne suchen sich auf dem Boden eines Saales einen Platz. Gegen 16 Uhr läuft die "Gustloff" aus. Der Bruder hat schwer unter der Seekrankheit zu leiden, der kleine Winfried schläft ein - bis ihn die Mutter aus dem Schlaf wachrüttelt und sie gemeinsam mit ihrem Bruder zum Ausgang drängen. Das Schiff ist vom Torpedo eines sowjetischen U-Boots getroffen und beginnt zu sinken - unter den 10.000 Menschen an Bord des Flüchtlingsschiffes bricht Panik aus.


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