WebWecker Bielefeld ,
28.01.2004 :
Zwangsarbeiter bei Euscher
Manfred Horn
Als die Ausstellung "Von Bethlehem nach Bielefeld" vor gut einer Woche in der Ravensberger Spinnerei eröffnet wurde, wunderten sich einige Besucher. Da war auf einer Wandtafel das Schicksal von Praskowja Fedosjewna Sajenko dargestellt. Sie schrieb der Bielefelder Sektion des Vereins "Gegen Vergessen – Für Demokratie" im November 2001 einen Brief. Darin erzählte sie vor allem von ihrer Zeit als Zwangsarbeiterin in Bielefeld bei der Firma Ewald Euscher. Die allerdings wurde in Bielefeld öffentlich noch nie in Zusammenhang mit Zwangsarbeitern gebracht. Im Stadtarchiv gibt es zwar Informationen zur Beteiligung der Firma am Zwangsarbeitersystem, der heutigen Unternehmensleitung aber war das alles bis vor einer Woche unbekannt.
Dann aber meldeten sich einige ehemalige Mitarbeiter der Firma für Präzesisions-Tiefziehteile in der Johanneswerkstraße. Der Geschäftsführer Jens Euscher-Klingenhagen setzte sich, auch nach einer Anfrage des WebWeckers, mit dem Stadtarchiv in Verbindung. Das mittelständische Unternehmen wurde 1924 gegründet, belieferte damals die lokale Metallindustrie wie beispielsweise Dürkopp mit Maschinenbautechnik. Heute arbeiten circa 220 Menschen bei Euscher, die Spezialteile werden vor allem für die Automobil- und Verpackungsindustrie geliefert.
Aus dem Brief von Praskowja Fedosjewna Sajenko geht hervor, dass sie ab Oktober 1942 zusammen mit 25 anderen ZwangsarbeiterInnen bei Euscher arbeiten musste und auf dem Werksgelände eingesperrt war. "Das wird wohl so gewesen sein", bestätigt Jens Euscher-Klingenberg dem WebWecker. MitarbeiterInnen aus der Zeit, die er noch hätte fragen können, gebe es leider nicht mehr.
"In der Zeit waren Zwangsarbeiter in Bielefeld weit verbreitete Praxis, dass wurde den Firmen aufoktroyiert." Der Firmengründer Ewald Euscher, der das Unternehmen während der NS-Zeit leitete, ist bereits vor vielen Jahren verstorben. "Die Informationslücke lässt sich nur schwer schließen", sagt Euscher-Klingenberg, Enkel des Firmengründers. Die Aufzeichnungen der Firma jedenfalls geben auch nichts her, das Kapitel Zwangsarbeiter scheint dort ausgespart. "Wir wollen uns aber jetzt mit dem Thema beschäftigen", ergänzt Euscher-Klingenberg. Er setzt auf Dialog und offenen Umgang mit dem Thema und will auch in Kontakt mit dem Verein "Gegen Vergessen – Für Demokratie" treten. Mit der Briefschreiberin Praskowja Fedosjewna Sajenko wird dies allerdings nicht mehr möglich sein, sie ist kürzlich verstorben.
Dokumentation: Der Brief von Sajenko, Praskowja Fedosejewna an den Verein "Gegen Vergessen – Für Demokratie":
Diesen Brief aus der Ukraine schreibt ihnen Sajenko, Praskowja Fedosejewna. Ich wohne im Gebiet Dnepropetrowsk. Im Zweiten Weltkrieg wurde ich nach Deutschland zur Zwangsarbeit vertrieben. Damals lebte ich mit meiner Mutter und Großmutter im Dorf Kapulowka des Rayons Nikopol. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt an der Front. Im September – Oktober 1942 kam zu uns ein Kommandant und gab uns für die Vorbereitungen nach Deutschland drei Stunden. Wir wurden dann in die gewöhnlichen Eisenbahnwaggons geladen. Wir fuhren sehr lange aufgrund der häufigen Bombenangriffe. Wir waren sehr hungrig, es war sehr kalt, die Läuse quälten uns. Deutsche Soldaten mit Hunden bewachten uns. Am 14.Oktober 1942 kamen wir in Bielefeld an.
Zuerst brachte man uns zur Badestube, dann gab man uns die Kleidung, auf dem Ärmel war OST angenäht.
Ich arbeitete in einer Fabrik Ewald Euscher, ihr Besitzer war nach meiner Schätzung etwa 70 Jahre alt. Ich führte dort Schweißarbeiten an einer Werkbank aus. Da ich für diese Werkbank zu klein war, machte man mir eine Fußbank. Wofür die hergestellten Einzelteile vorgesehen waren, wußten wir nicht.
Die Fabrik wurde von Wachleuten bewacht. Wir wohnten auf dem Fabrikgelände. Einmal am Tag gab man uns zum Essen: Spinat, Steckrüben, Brühe. Es kam aus einer Großküche, die das Essen für 3000 Menschen machte. In der Suppe schwamm Verpackungspapier von der Margarine und anderer Müll. Für eine Woche bekamen wir 2 kg Brot. Nachdem daraus kleine Holzstücke und andere Beimischungen entfernt wurden, blieb vom Brot fast gar nichts über.
Es tut weh, sich an solche Ereignisse zu erinnern. Im Gedächtnis gibt es aber auch andere Erinnerungen. In der Fabrik haben wir zusammen mit den Deutschen gearbeitet. Marta, Maria und Elsa sind mir in Erinnerung geblieben. Sie waren nette und gute Menschen. Sie brachten mir kleine Butterbrote etwa 50 g und versteckten sie zwischen den Ersatzteilen. Ich nahm unauffällig die Butterbrote und aß sie auf der Toilette. Leider kann ich mich an die Familiennamen der Frauen nicht erinnern.
Ich erinnere mich daran, wie einmal eine der Frauen zwei Strickjacken mitbrachte, obwohl sie wußten, welche Folgen es hätte haben können. Ich weiß noch ihre Farben: weiß und rosa. Ich danke diesen Frauen für ihre Herzensgüte. Ich würde diese lieben Menschen gerne wiedersehen.
Da gab es noch einen Vorfall.
Neben unserer Fabrik wurden russische Gefangene in die Straßenbahn gesetzt. Ich erkannte einen von ihnen, es war mein Onkel. Ich freute mich natürlich und wollte ihm ein Päckchen mit einem Stückchen Steckrübe und einer Möhre geben. Einer von der Polizei sah dieses Päckchen, nahm es und warf es in den Müll. Und ich wurde zur Polizei gebracht. Man unterstellte mir, daß ich den Gefangenen Schnaps und Zigaretten bringen würde. Man wollte mich in das KZ schicken. Sie riefen meinen Chef an, und er kaufte mich dann für einhundert Mark frei. Danke ihm dafür. Ich war damals 17 Jahre alt und sehr verängstigt. Gott sei Dank, daß es gut ausging.
Freizeit hatten wir im Grunde nicht, denn wir arbeiteten hart, 12 Stunden am Tag. Man ließ keinen auf das Territorium des Lagers rein. Insgesamt waren wir 25 Personen. Wir arbeiteten die ganze Woche, sonntags hatten wir frei. Da durften wir für 2 Stunden ausgehen. Und wenn man sich um eine Minute verspätete, dann bekam man keinen Ausgang mehr. Man gab uns 2 Mark, wir konnten aber nichts kaufen, weil die Bevölkerung Angst hatte, uns irgend etwas zu verkaufen. Nachdem ich von der Polizei verhaftet wurde, bekam ich gar kein Geld.
Manchmal gingen wir zu den Bauern und baten um ein bißchen Gemüse. Nur wenige gaben uns dann irgend etwas. Die meisten Menschen hatten Angst, mit uns zu sprechen.
An einigen Sonntagen lud mich die Frau eines Zahnarztes zur Arbeit ein. Ich wischte im Keller die Einmachgläser ab. Dafür gab sie mir ein bis zwei kleine Butterbrote.
Es ist erstaunlich, ich habe diese Ereignisse lebhaft vor Augen. Ich erinnere mich an die Gesichter der Menschen, an die Landschaft. In Erinnerung ist eine sehr schöne Stadt und der Wald.
Vor den Bombenangriffen gingen wir in den Keller, einmal fiel auf uns ein Balken. Danach erlaubte uns unser Besitzer, für die Zeit der Angriffe, in den Wald zulaufen. Drei Monate vor unserer Befreiung wurde die Fabrik zerstört, dann verkaufte man uns an einen anderen Besitzer. Es war ebenfalls eine Fabrik, an den Namen der Stadt und des Fabrikbesitzers kann ich mich nicht erinnern.
Am 1. April 1945 befreiten uns die amerikanischen Truppen. Dann gab es ein Treffen an der Elbe. Und dann die Rückkehr nach Hause.
Ich muß noch von einem Zwischenfall erzählen. Als deutsche Truppen unser Dorf Kapulowka besetzten, quartierten sich bei meiner Mutter deutsche Soldaten ein. Einer von ihnen war Einwohner der Stadt Bielefeld. Nachdem er erfuhr, daß die Tochter der Hausherrin in seine Stadt vertrieben wurde, war er einverstanden, die Briefe während des Urlaubs zu Hause zu übergeben. Sie können sich meine Angst vorstellen, als ich zum Besitzer gerufen wurde, aber auch wie ich und die anderen sieben Mädchen aus unserem Dorf uns über diese Nachricht von zu Hause freuten.
Nach der Rückkehr ins eigene Land arbeitete und heiratete ich, gebar drei Kinder, drei Söhne.
Am 5.April 2001 werde ich 77 Jahre alt. Die Gesundheit ist angeschlagen, ich sehe schlecht (Cataracta /grauer Star). Deshalb ist eine Augenoperation notwendig. Es ist bedauerlich, aber ich warte auf die vom heutigen deutschen Staat versprochene Entschädigung, um mein Problem zu lösen.
Ich lebe allein, mein Mann ist vor 5 Jahren gestorben. Ich bekomme eine geringe Rente. Nach der Abrechnung für die Kommunaldienste (Heizung, Strom, Wasser u.a.) bleibt davon nicht viel übrig.
Heute möchte ich allen Völkern wünschen, daß sie den Schrecken des Krieges niemals kennenlernen. Mit dem Krieg sind bei Euren und unseren Menschen viele traurige Erinnerungen verbunden. Es starben Kinder, Eltern, Verwandte, Freunde. Am 25. April 1945 starb mein Vater. Er ist neben dem Brandenburger Tor begraben. Diese Liste kann fortgesetzt werden ... Der Schrecken darf sich niemals wiederholen.
Viel Glück allen.
Mit Hochachtung, Sajenko
November 2001
webwecker@aulbi.de
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