Der Patriot - Lippstädter Zeitung ,
20.11.2006 :
"Das sicherlich blutigste Jahrhundert der Geschichte" / Gedenkfeier zum Volkstrauertag: In einer ungewöhnlich politischen Rede kritisiert Karin Bödeker-Schröder offen die Abschiebung der Familie Zeneli
Lippstadt. Anlässlich des Volkstrauertages gedachten gestern zahlreiche Menschen der Opfer von Krieg und Gewalt. Auf dem Hauptfriedhof fanden sich am Vormittag trotz der widrigen Witterung viele Bürger vor dem steinernen Sarkophag ein, der an die Toten des Ersten Weltkriegs erinnert und traditionell Ort der zentralen Gedenkfeier der Stadt ist.Versammelt hatten sich auch Vertreter des politischen Lebens: Mitglieder von Rat und Verwaltung, Vize-Landrätin Ulrike Gilhaus und die Landtagsabgeordnete Marlies Stotz. Bürgermeister Christof Sommer legte an den Ehrenmalen für den deutsch-französischen Krieg sowie die beiden Weltkriege, auf dem Jüdischen Friedhof, an dem russischen, dem polnischen und dem Ehrenmal für die Vertriebenen Kränze nieder. Verbände taten es ihm gleich.
Letztmals nahmen aktive Soldaten der Bundeswehr an der Feier teil und legten einen Kranz nieder. Musikalisch rahmten Bläser der Musikschule und Männerchöre, optisch Fahnenabordnungen der Schützenvereine die Feier. Pfarrer Thomas Hartmann von der Evangelischen Kirchengemeinde gedachte im Gebet derjenigen, die "in Kriegs- und Nachkriegszeiten" getötet wurden und bat um "Einsicht und Trost".
Oberstudienrätin Karin Bödeker-Schröder hielt die Gedenkansprache. In einer bemerkenswert politischen Rede stellte sie den Umgang mit Flüchtlingen heute in den Kontext der Erinnerung an Gräueltaten der Vergangenheit. Offen kritisierte die Lehrerin des Weiterbildungskollegs die Abschiebung der Familie Zeneli ins Kosovo (wir berichteten), deren ältester Sohn Ardian ihr eigener Schüler war.
Das 20. Jahrhundert sei "sicherlich das blutigste, menschenverachtendste der Geschichte" gewesen, sagte Bödeker-Schröder. Sie erinnerte an die beiden Weltkriege ebenso wie an die stalinistische Diktatur, an den Vietnamkrieg und an "Gewaltexzesse in Asien und Afrika" – von Pol Pot bis Saddam Hussein, von Ruanda über den Kongo bis hin zur sudanesischen Provinz Darfur.
Das nationalsozialistische Regime sei jedoch unter allen einzigartig, weil in ihm "systematischer Völkermord zum politischen Programm wurde", betonte die Lehrerin. Daher gedenke man am Volkstrauertag auch in besonderem Maße der Opfer der NS-Zeit und trage "eine ganz besondere Verantwortung", dass durch die Erinnerung "eine zukünftige Wiederholung hier oder anderswo auf der Welt unmöglich" werde. Die Kriegsopfer seien "Mahnung an uns, endlich dafür zu sorgen, dass es zukünftig keine neuen Opfer mehr geben wird und dann auch – welch schöne Vision – solche Gedenktage vielleicht überflüssig werden".
Aus der Erinnerung an die Opfer der Vergangenheit leitete Oberstudienrätin Bödker-Schröder bei ihrer Gedenkansprache Leitlinien für gegenwärtiges politisches Handeln ab. Auch heute müsse sich die deutsche Gesellschaft als "eine offene, freie, menschenfreundliche Gemeinschaft" beweisen, in der "alle, die diese Werte teilen, willkommen sind". Insbesondere verwies die Rednerin auf die Kriegsflüchtlinge aus anderen Ländern, die in den letzten Jahren in Deutschland Schutz gesucht hätten – für sie trage die Gesellschaft Verantwortung.
"Umso bedrückender ist es, wenn wir sie durch eine in manchen Belangen sehr fragwürdige Abschiebepraxis zum zweiten Mal zu Kriegsopfern machen, indem wir sie nach langen Jahren, in denen sie sich nach oft dramatischer Flucht vor dem Krieg in ihrer Heimat hier unter uns eine Existenz aufgebaut und so etwas wie eine Heimat wiedergefunden haben, mit dem Flugzeug in eine ungewisse Zukunft schicken."
Damit meinte sie die Familie Zeneli, deren Kinder nun "einen hohen Preis" für ihre gute Integration bezahlen würden: Schon mangels Sprachkenntnissen sei im Kosovo ihre Entwicklung gehemmt; überdies erführen sie täglich Gewalt. "Es geht daher auch um heutige Kriegsopfer", sagte die Lehrerin, "denn die Sehnsucht nach Versöhnung und Frieden hat immer noch nicht dazu geführt, dass der Mensch in den Mittelpunkt der Politik gerückt ist".
Nach der Feier reagierten Zuhörer ebenso mit Zustimmung wie mit Stirnrunzeln. Die Erinnerung an die Toten, meinten Anwesende, dürfe man nicht in dieser Deutlichkeit kommunal politisieren. Dazu fehle es schon allein an der Möglichkeit der Gegenrede.
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