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WebWecker Bielefeld , 21.01.2004 :

Von Bethlehem nach Bielefeld

Von Bethlehem nach Bielefeld waren es lange drei Kilometer. Der Weg, den die ZwangsarbeiterInnen vom Johannisberg während der NS-Zeit zur Arbeit zurücklegen mussten. Eine Ausstellung in der Ravensberger Spinnerei dokumiert fünf Geschichten von Zwangsarbeiterinnen, die bei Bielefelder Unternehmen zur Arbeit genötigt wurden.

Von Manfred Horn

Am Anfang steht eine bewusste Irritation: "Von Bethlehem nach Bielefeld". Haben die Nationalsozialisten arabische Menschen zum Arbeitseinsatz in Bielefeld genötigt? Kurt Vogelsang, ehemaliger IG-Metall-Vorsitzender und ehemaliges Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion löste das Rätsel auf: "Neu-Bethlehem" und "Alt-Bethlehem" bezeichneten während des 2. Weltkrieges zwei Zwangsarbeiterlager in Bielefeld. In "Neu-Bethlehem" waren circa 850 der 3.000 ZwangsarbeiterInnen untergebracht, die Dürkopp für sich arbeiten ließ.

Direkt daneben war das Holzbaracken-Lager "Alt-Bethlehem", wo 30 Bielefelder Firmen gemeinsam ihre Zwangsarbeiter untergebracht hatten. Auch Kriegsgefangene wurden dort festgehalten, die für den Arbeitseinsatz bestimmt waren. Der Name Bethlehem geht wohl nicht auf die Bibel zurück, sondern auf einem Zimmermann namens Bethlehem. Der war auf dem Johannisberg jahrelang für den Aufbau der Schützenzelte zuständig. Ihm zu Ehren, so nimmt Vogelsang an, gab man den Zwangsarbeiterlagern auf dem Johannisberg die Bethlehem-Namen. Deutsche kamen Sonntags zum Berg, um sich die ZwangsarbeiterInnen anzuschauen, es war wie ein eintrittsfreier Menschenzoo. Doch bis heute gibt es keine Zeugenaussagen von BielefelderInnen, die die Dimension und das Geschehen auf dem Johannisberg näher beleuchten.

"Von Bethlehem nach Bielefeld" ging es drei Kilometer zu Fuß. Morgens den Berg runter, nach zwölf Stunden Arbeit den Berg wieder hinauf. Bis Ende 1944 ein Bombenangriff die Lager auf dem Johannisberg traf. Es gab Tote unter den ZwangsarbeiterInnen. Das Lager wurde aufgelöst, die unfreiwilligen Arbeitskräfte auf andere Lager in der Stadt verteilt. Alleine Dürkopp hatte 3.000 ZwangsarbeiterInnen und verschiedene Lager, teilweise auf dem Fabrikgelände. Für die ZwangsarbeiterInnen gab wenig zu Essen, die Suppen bestanden aus Abfällen, Würmern und vor allem Wasser. "Manchmal sollten in der Suppe Rüben sein, aber da war man sich auch nicht sicher", erklärt Vogelsang.

Viele der Erkenntnisse, unter welch menschenunwürdigen Zuständen die fast 15.000 zivilen Zwangsarbeitskräfte vor allem aus osteuropäischen Ländern und etwa 1.800 Kriegsgefangenen in Bielefeld zwischen 1942 und 1945 arbeiten und leben mussten, stammen aus den Briefen, die der Verein "Gegen Vergessen - Für Demokratie" gesammelt hat. Der Verein nahm 2001 – damals noch unter seinem alten Namen als DGB-Arbeitskreis – Kontakt mit der Moskauer "Memorial-Stiftung" auf, die vor allem in Russland und in der Ukraine aktiv ist (WebWecker berichtete).

Dort bekam man Adressen von 150 ZwangsarbeiterInnen, die während des 2. Weltkriegs in Bielefeld arbeiten mussten. Etwa 50 der Angeschriebenen, vorwiegend Frauen, antworteten bis heute in Form von Briefen. Einige der Zwangsarbeiterinnen besuchte eine Bielefelder Delegation im November 2003 (WebWecker berichtete). Bis heute wurde aber noch keine der SklavenarbeiterInnen von der Stadt Bielefeld eingeladen, um sich ganz offiziell zu entschuldigen.

Die kleine Ausstellung mit zehn großformatigen Tafeln, die noch bis zum 15. Februar im ersten Obergeschoss der Ravensberger Spinnerei zu sehen ist, konzentriert sich auf die Geschichten von fünf Zwangsarbeiterinnen aus der ehemaligen Sowjetunion. Woher sind sie gekommen, wie erlebten sie ihre Zeit in Bielefeld, was ist nach 1945 aus ihnen geworden? Grundlage dafür sind wiederum die Briefe, die der Verein "Gegen Vergessen - Für Demokratie" erhalten hat.

Petra Krasa hat die Ausstellung zusammengestellt. Sie arbeitet im Stadtarchiv und ist gleichzeitig Mitglied des Vereins "Gegen Vergessen – Für Demokratie". Im Stadtarchiv führt sie die Nachweisrecherche durch. Sie ist vorgeschrieben, damit die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen ihre Entschädigung bekommen, die der Bundestag per Gesetz vor drei Jahren verabschiedet hat. Ein langwieriges Verfahren, zudem sind die Nachweise nach mehr als 50 Jahren von den ZwangsarbeiterInnen kaum noch zu bringen, ein ganzes Leben hat sich seitdem ereignet.

Die Ausstellungstafeln geben einen kleinen konzentrierten Einblick in die Situation der Frauen. Sie selbst erzählen ihre Geschichte; Leid, Alltag und kleine Freuden unter Terrorbedingungen werden so sichtbar. Was passierte bei Fliegeralarm? Wer steckte einem ein Brot zu und wer ließ einen mit bloßen Händen die Klos putzen? Wie erging es den Frauen nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion?

Alte, vergilbte Bilder auf den Ausstellungstafeln zeigen junge Frauen vor Baracken und an Maschinen. Orte, an denen sie gezwungenermaßen einen Teil ihrer Jugend verschleuderten. Andere Bilder zeigen auch alte Frauen um die 80; manchmal stolz, manchmal gebrochen. Es sind dieselben Frauen, verändert durch 50 Jahre harter Lebensgeschichte. Vier der fünf Frauen, deren Geschichte auf den Tafeln dargestellt ist, sind inzwischen tot. Häufig fehlte ihnen Geld, um ihre Krankheiten zu behandeln. Für sie kommen die Entschädigungen, die immer noch nicht vollständig ausgezahlt sind, zu spät. Wie sagte doch Kurt Vogelsang während der Ausstellungseröffnung: "Schuld vererbt sich nicht, aber Verantwortung bleibt."

Die Ausstellung ist bis zum 15. Februar in der Ravensberger Spinnerei im Flur des ersten Obergeschosses zu sehen. Es gibt ein Begleitprogramm, in dem unter anderem der Film "Späte Versöhnung" gezeigt wird, den ein Team aus Bielefeld im November 2003 in der Ukraine aufnahm. Nähere Informationen finden Sie auf den WebWecker-Seiten des Vereins "Gegen Vergessen - Für Demokratie".


webwecker@aulbi.de

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