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Lippe aktuell , 21.01.2004 :

Ausstellung "Lebensunwert - zerstörte Leben" / Euthanasie und Zwangssterilisation

Detmold (ts). Das Schreiben erscheint formal korrekt und schildert in dürrem Behördendeutsch einen kaum begreifbaren Vorgang. Auf Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 19. Juli 1933 wird verfügt, dass ein Mensch sich nicht fortpflanzen darf und zwangsweise sterilisiert wird. Anlass war häufig Denunziation durch einen Nachbarn, manchmal sogar durch Familienangehörige. Ab 1939 drohte "minderwertigem Menschenmaterial" sogar die Ermordung. Nach dem "Euthanasie-Erlass" wurden vorgeblich "Kranke" planvoll getötet.

Noch immer gehören die Zwangssterilisation und Euthanasie zu den wenig aufgearbeiteten Kapiteln des Dritten Reiches. Die Betroffenen dieser Nazi-Gräueltaten kämpfen bis heute um die Anerkennung und Entschädigung als NS-Opfer - in vielen Fällen vergeblich. Mit einer Ausstellung, die an die Menschen, die wegen ihrer Erkrankungen, wegen sozialer Auffälligkeiten oder wegen systemkritischer Äußerungen in der NS-Zeit unfruchtbar gemacht oder ermordert wurden, erinnert, greift jetzt das Staatsarchiv diese Thematik auf. In Zusammenarbeit mit dem Bund der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ) wurde die Ausstellung "Lebensunwert - zerstörte Leben" entwickelt, die am morgigen Donnerstag, 22. Januar, um 18 Uhr eröffnet wird.

Im Mittelpunkt stehen 15 Tafeln der gleichnamigen Wanderausstellung des BEZ, die durch Originalschriftstücke, Fotos, Präsentationen und Objekte aus dem Bestand des Staatsarchives ergänzt werden. Besonders bedrückend aus lippischer Sicht: Während die großen Vernichtungslager noch relativ weit waren, passierten Zwangssterilisation und Euthanasie hier vor Ort. Tatorte waren Heil- und Pfelegeanstalten und Krankenhäuser. Zum Beispiel "Eben-Ezer" oder das "Lindenhaus" in Lemgo-Brake. Leiter dieser Einrichtung war bis 1946 Dr. Julius Müller. Der stramme Nazi, der schon 1933 in die NSDAP eingetreten war, führte dort Zwangssterilisationen durch. Auf der anderen Seite rettete er aber auch einige Menschen vor der Euthanasie, weil er sich weigerte, die entsprechenden Meldebögen, mit denen "lebensunwerte" Fälle erfasst wurden, auszufüllen.

Durch solche persönlichen Details macht die Ausstellung die schrecklichen Vorgänge, die sich auch im früher eigenständigen Land Lippe abgespielt haben, erlebbar. Originalschriftstücke, in denen beispielsweise eine Frau die Sterilisation ihrer Stieftochter fordert oder in denen Menschen ihre Nachbarn denunzieren, sind ein Beleg für das Grauen. Zusätzlich stellen Objekte, wie persönliche Gegenstände von Euthanasieopfern, die bei Ausgrabungen gefunden wurden, Plastizität her.

Zur Eröffnung der Ausstellung, die einen Bogen von den Vordenkern der Selektion bei Menschen im 19. Jahrhundert bis zur aktuellen Diskussion um Eugenik und Präimplantationsdiagnostik spannt, spricht am Donnerstag um
18 Uhr Weihbischof Dr. Karl-Heinz Wiesemann ein Grußwort, bevor Prof. Dorothee Roer einen Vortrag zum Thema "Hören und gehört-werden - Zeugenschaft und historische Wahrheit" hält.

Die Ausstellung ist bis zum 19. März täglich ab 8 Uhr (montags bis 18 Uhr, dienstags bis donnerstags bis 16 Uhr, freitags bis 13 Uhr) im Staatsarchiv in der Willi-Hoffmann-Straße zu sehen. Führungen für Gruppen und Schulklassen kann man unter den Telefonnummern 05231/766-104 oder 766-0 (Gruppen) und 05231/766-102 (Schulklassen) vereinbaren.


la.redaktion@lippe-aktuell.de

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