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Warburger Zeitung / Neue Westfälische , 08.09.2006 :

Auf der Suche nach dem Unsichtbaren / Navigieren aus luftiger Perspektive: Die hochwertige Ausbildung Höxteraner ABC-Abwehrspezialisten

Von Gerald Dunkel

Kreis Höxter. "Welcher Ort liegt da vor uns?" Die Frage des Piloten trifft Stabsunteroffizier Carina Paul (26) zwar unerwartet, bringt sie aber nicht aus der Ruhe. "Bevern ist das", erwidert die Zeitsoldatin nach einer knappen Sekunde. Sie lernt das Navigieren eines Hubschraubers für einen Fall, der niemals eintreten möge.

Das Aufspüren und Messen radioaktiver Strahlung per Hubschrauber aus der Luft steht beim ABC-Abwehrbataillon 7 aus Höxter etwa viermal pro Jahr auf dem Dienstplan. Eine Ausbildung, die bezeichnend ist für die avantgardistische Rolle, die der Verband heute in der NATO spielt. Das Höxteraner Bataillon gehört zur so genannten NRF (NATO Response Force), die "Schnelle Eingreiftruppe" der NATO.

Die Einsatzgrundsätze für das "Strahlenspüren aus der Luft", im Bundeswehrjargon kurz "Luftspüren" genannt, wandeln sich in den letzten Jahren immer mehr in Richtung Terrorbekämpfung. War das vorrangige Übungs-Szenario für das Luftspüren bislang noch der Einsatz nach der Detonation einer Kernwaffe als kriegerischer Akt, werden jetzt immer öfter imaginäre Strahlungsquellen in der Simulation aufgespürt.

"Nach dem Einsatz von Kernwaffen lässt sich die Auswirkung mit der Messmethode per Hubschrauber schnell und effizient für ein großes Gebiet ermitteln. Die Ergebnisse sind Grundlage für das weitere Vorgehen großer Kampfverbände der NATO", erklärt Oberfeldwebel Sven Montag, Gruppenführer der Lufteinsatz- und Messgruppe in der 2. Kompanie des Höxteraner Bataillons. Im direkten Umfeld der Detonation werden große Mengen Staub und Erde durch Neutronenstrahlung selbst zum Strahlen angeregt. Sie werden in die Luft geschleudert und durch den Wind weitergetragen. Dieser "Fallout" kontaminiert dadurch weitere Gebiete.

Abweichungen von der Flugroute bringen später falsche Messergebnisse

Stabsunteroffizier Carina Paul und drei weitere Soldaten im gleichen Rang befinden sich zurzeit in der Ausbildung zum Lufteinsatz- und Messtruppführer. Die Zusammenarbeit mit Hubschrauberpiloten und das punktgenaue Navigieren aus der Luft gehören dazu. Zwei Tage lang haben sie einen Hubschrauber vom Typ BO 105 inklusive Pilot und Bordtechniker zur Verfügung. Eine Flugstunde mit diesem Hubschrauber kostet etwa 2.500 Euro. "Am ersten Tag wird nur navigiert", erklärt Sven Montag. "Am zweiten Tag werden die Geräte für das Strahlenspüren am und im Hubschrauber installiert. Dann navigiere ich und die Stabsunteroffiziere sitzen hinten am Bediengerät und nehmen simuliert die Strahlenwerte, die sie vorgegeben bekommen." Echte Strahlungsquellen zum Üben können aus nachvollziehbaren Gründen nicht auf dem Boden ausgelegt werden.

Auf der Karte für die Flugroute werden markante Punkte wie Straßenkreuzungen, Kirchen, Sportanlagen und Flüsse markiert. An ihnen orientiert sich das Spürteam später. Pilot Hauptmann Lutz Felgendreher (28) von den Heeresfliegern aus Celle wird von Gruppenführer Sven Montag in die vorgesehene Flugstrecke eingewiesen. Diese muss mit der Strecke, die der Pilot von den künftigen Truppführern gewiesen bekommt, übereinstimmen.

"Wird im Einsatz von der Route abgewichen, ergeben sich falsche Ergebnisse", sagt Montag. Für die Truppe, die dieses Gebiet später durchquert, könne das genauso fatale Folgen haben wie für die Zivilbevölkerung. Von den Ergebnissen hängt nämlich auch die Entscheidung ab, inwieweit der Bereich evakuiert werden muss. Je nach Wetter- und Windlage hat dieses Gebiet eine unterschiedlich große Ausdehnung und etwa die Form eines Dreiecks.

Carina Paul ist als erste an der Reihe und nimmt vorne links neben dem Piloten Platz, nachdem sie ihn selbst noch einmal zu Übungszwecken in die Route einweisen muss. Obwohl sie zum ersten Mal fliegt, kann sie ein leichtes Unbehagen gut verbergen. Zur latenten Flugangst kommt aber noch, dass sie diejenige ist, die dem Piloten Richtung, Geschwindigkeit und Flughöhe vorgibt. "Das ist ganz schön ungewohnt, einem Vorgesetzten Anweisungen zu geben", sagt sie später.

"Wir dürfen nicht grundlos über Ortschaften stehen bleiben"

Während die Rotoren der BO 105 anlaufen, versucht Lutz Felgendreher seiner Navigatorin die Anspannung zu nehmen: "Ich bin nur ihr Chauffeur." Felgendreher würde nur bei Verstößen gegen die Flugsicherheit eingreifen. "Zum Beispiel, wenn ich zu nah an ein Kernkraftwerk, an Stromleitungen oder Windkraftanlagen gelotst würde. Wir dürfen wegen der Lärmbelastung auch nicht grundlos über bewohntem Gebiet stehen bleiben." Gerade Windkraftanlagen seien bei Hubschrauberpiloten wenig beliebt. "Dahinter ist es manchmal wie in einem Sturm."

"Okay, wir starten nach 60 Grad Richtung Holzminden bis zur Weser, der wir flussabwärts folgen", beginnt Carina Paul. "Gut", erwidert der Pilot. "Wie hoch und wie schnell?" fragt er. "100 Meter bei 60 Knoten (110 km/h)", antwortet Paul prompt. Seit Anfang 2004 ist sie bei der Bundeswehr. Kommuniziert wird im Hubschrauber über Headsets, eine Kombination aus Kopfhörer und Mikrofon. Ohne wäre während des Fluges das eigene Wort kaum zu hören. "Es klappt doch", sagt Carina Paul leise zu sich selbst.

Während dessen bereitet sich in der General-Weber-Kaserne Stabsunteroffizier Alexander Helmecke auf seinen Flug vor. Er ist als zweiter dran und hat mächtig Respekt vor dem Fliegen. "Ich weiß noch nicht, was in der Luft mit mir passieren wird. Auch ich fliege zum ersten Mal. Mal sehen, ob mir schlecht wird", sagt er, während er in Gedanken und auf der Karte die Flugroute durchgeht.

Über einem Waldstück zwischen Bevern und Eschershausen (Landkreis Holzminden) will der Pilot von Carina Paul wissen, an welchem Punkt sie sich befinden. Ihre Antwort lässt einen Moment auf sich warten, als der Hubschrauber von Windböen leicht durchgeschaukelt wird. "Was haben Sie sich hier als markanten Punkt gesucht?", fragt er. "Einen Bach im Wald", sagt Paul. "Können Sie den von hier oben sehen?" "Nein." Felgendreher erklärt, dass markante Geländepunkte in Wäldern zwar auf der Karte, aber nicht aus der Luft zu sehen sind, weil sie von Bäumen verdeckt werden. Carina Paul findet schnell ihr Alternativobjekt – die Bundesstraße 64 mit einer Kreuzung in etwa 1.500 Meter Entfernung.

Mit der Spitze eines Bleistifts zeigt sie auf einen Punkt in der Karte. "Hier sind wir", sagt sie überzeugt. "Klasse", der Offizier nickt zufrieden. Paul: "Dann bleiben wir rechts der Straße bis zur nächsten Anhöhe in etwa 5.000 Meter Entfernung auf zwölf Uhr (geradeaus) und drehen dann in Richtung 300 Grad (schräg-links) nach Eschershausen ab." "Aus dieser Höhe kann ich die Ortsschilder aber nicht erkennen", sagt der Heeresflieger. Carina Paul lächelt und antwortet: "Ich sag' es Ihnen rechtzeitig, wenn wir da sind."

Wenn die regelmäßige Meldung ausbleibt, werden Suchtrupps losgeschickt

Nach 30 Minuten und etwa 100 Flugkilometern landet die BO 105 wieder auf dem "Schwarzen Platz" in der Kaserne. Carina Paul grinst mit verhaltenem Stolz in Richtung ihrer wartenden Kameraden, als sie die Sicherheitsgurte löst. Der Pilot hält den rechten Daumen hoch und zeigt ihrem Vorgesetzten Sven Montag damit: "Das hat sie gut gemacht." Felgendreher greift zum Handy und meldet sich bei seiner Einheit in Celle. "Das mache ich vor jedem Start und nach jeder Landung", erklärt er. Meldet er sich nicht, wird dort von einem Unfall ausgegangen und Suchtrupps werden losgeschickt.

"Als nächstes steht Stabsunteroffizier Helmecke in der Bütt", sagt Sven Montag. Helmecke hat bereits in der BO 105 Platz genommen und wird von Bordtechniker Oberfeldwebel Marcel Sieverling (27) in die Sicherheitsgurte und das Headset eingewiesen. Der Stabsunteroffizier fragt scherzend nach der "Tüte für den Notfall". "Auch die ist vorhanden", sagt Sieverling. Doch auch Helmeckes Nervosität ist nach wenigen Minuten buchstäblich verflogen, die Konzentration auf die Flugroute lenkt ihn ab, und auch er hat später Grund zum Lächeln, als "sein" Pilot nach der Landung den Daumen hoch hält – die Papiertüte unter dem Sitz bleibt heute und morgen unbenutzt.


lok-red.warburg@neue-westfaelische.de

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