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Schaumburger Zeitung , 11.11.2002 :

Barsinghäuser Schüler lesen aus einem Zeugnis der Menschlichkeit

Barsinghausen (sr). Vor 64 Jahren am 9. November setzten Nationalsozialisten jüdische Geschäfte und Synagogen in Berlin in Brand. Zur Erinnerung an diese Reichspogromnacht kamen am Sonnabend rund 70 Gottesdienstbesucher in der St. Barbara-Kirche und auf dem jüdischen Friedhof zusammen.

Im Mittelpunkt des ökumenischen Gottesdienstes stand die jüdische Ärztin Lilli Jahn, die in Auschwitz starb. Fünf Schüler des Hannah-Arendt-Gymnasiums und der KGS-Goetheschule lasen gemeinsam mit Diakonin Heidi Sieg aus dem Buch "Mein verwundetes Herz – Das Leben der Lilli Jahn 1900 - 1944". In einer einzigartigen Vollständigkeit sind über 500 Briefe erhalten, die das dramatische Schicksal der deutsch-jüdischen Familie erzählen. Die Familie Jahn zerbricht äußerlich an den Wirren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, nachdem sich der protestantische Arzt Ernst Jahn von seiner jüdischen Frau Lilli scheiden ließ und sie so schutzlos der nationalsozialistischen Verfolgung ausgeliefert ist. 1943 wird Lilli Jahn verhaftet und in das Arbeitserziehungslager Breitenau gebracht. Von dort aus beginnt sie einen langen, intensiven Briefwechsel mit ihren Kindern. Die Überlieferung der Briefe grenzt an ein Wunder. Es gelang Lilli Jahn, sie vor der Deportation nach Auschwitz einer Aufseherin anzuvertrauen, die sie dann den Kindern übergab.

"1998, als der Sohn von Lilli Jahn, Gerhard (Bundesjustizminister im Kabinett Willy Brandts), starb, fand die Familie den kompletten Briefwechsel in seinem Nachlass. Der Enkel Martin Doerry hat dann diese aufwühlenden Zeugnisse zu einem Buch zusammengefasst", berichtete Pastor Reinhard Dunkel. Der Briefwechsel zwischen der Mutter und den Kindern ist ein einmaliges Zeugnis der Menschlichkeit. Meist beginnen die Briefe an die Mutter mit der Anrede "Meine herzallerliebste Mutti", sie enden mit dem Gruß "Auf Wiederlesen". Die gebundene Ausgabe, 351 Seiten, ist im DVA-Verlag erschienen und kostet 24,90 Euro, ISBN: 342105634X.

Nach der Lesung im Gottesdienst zogen die Teilnehmer zum jüdischen Friedhof hinter der Kleingartenkolonie "Deisterblick". In ihrer Rede sagte die stellvertretende Bürgermeisterin Monika Scheibe nach der Kranzniederlegung, dass jeder der Gewalt gegen Schwächere oder Fremde entgegentreten müsse. Ein gutes Beispiel sei dafür die Aktion "Schule gegen Rassismus" der Goetheschule. "Junge Menschen müssen Fremdenhass und Rechtsradikalismus rechtzeitig erkennen, sich auflehnen und einmischen", sagte Monika Scheibe. Sie erinnerte auch daran, dass in diesem Jahr Neonazis versucht hatten, in der Deisterstadt Fuß zu fassen. Gegendemonstrationen hätten gezeigt: "Wir wollen in Barsinghausen nichts mit Rechtsradikalen zu tun haben."


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